Das Programmheft ist digital! Lest und schaut und hört vor dem Konzert oder danach. Währenddessen lieber den Blick auf die Bühne richten oder im Saal umherschweifen lassen. Und die Ohren öffnen für das, was kommt. Im Anschluss an das Konzert steht Euch wieder alles zur Verfügung.
Giuseppe Tartini (1692-1770)
25 piccole Sonate per Violino solo: Nr. 8, g-Moll III. Affettuoso
Arcangelo Corelli (1653-1713)
12 Concerti grossi op. 6: Nr. 8, g-Moll »Fatto per la notte di natale« I. Vivace – Grave II. Allegro III. Adagio – Allegro – Adagio IV. Vivace V. Allegro VI. Pastorale Largo
Salvatore Sciarrino (*1947) Sei nuovi capricci e un saluto: »un saluto« (Deutsche Erstaufführung)
Arcangelo Corelli
Concerto grosso Nr. 9, F-Dur I. Preludio Largo II. Allemanda Allegro III. Corrente Vivace IV. Gavotta Allegro V. Adagio
Niccolò Paganini (1782-1840)
24 Capricci op. 1: Nr. 22, F-Dur »Marcato«
Arcangelo Corelli
VI. Minuetto: Vivace
Jean-Marie Leclair (1697-1764)
Violinkonzert op. 7: Nr. 4, F-dur
Pause
Arcangelo Corelli
Concerto grosso Nr. 10, C-Dur I. Preludio Largo II. Allemanda Allegro III. Adagio IV. Corrente Vivace
Salvatore Sciarrino
6 Capricci: Nr. 1 »Vivace«
Arcangelo Corelli
V. Allegro VI. Minuetto Vivace
Niccolò Paganini
24 Capricci op. 1: Nr. 13, B-Dur »Allegro«
Arcangelo Corelli
Concerto grosso Nr. 11, B-Dur I. Preludio: Largo II. Allemanda: Allegro III. Adagio
Salvatore Sciarrino
6 Capricci: Nr. 3 »Assai agitato«
Arcangelo Corelli
III. Adagio IV. Andante Largo V. Sarabanda Largo VI. Giga Vivace
Konzertende ca. 21:00 Uhr
In 12 sehr berühmt gewordenen Concerti Grossi übersetzte Arcangelo Corelli das Neben- und Miteinander vom Einzelnen und Ganzen in folgenreiche, ewigjunge Orchestermusik. Doch Posen des Kapriziösen halten dagegen. Ilya Gringolts ist in guter Gesellschaft und auf dem Solo-Trip, er zelebriert die Geburtsstunde der Virtuosität, kompromisslos und expressiv. Einer gegen alle? Alle für einen?
Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,
heute schreibe ich Ihnen aus der papierlosen Zukunft.
Für das aktuelle Konzertprogramm haben wir unser gedrucktes Programmheft durch ein digitales Format ersetzt. Das Programm »concerti & capricen« war während der Corona-Pandemie schon einmal ins Digitale übersetzt worden, Lilli Thalgott verzauberte uns damals mit einem großartigen Konzertfilm. Diese Grundlage nutzen wir heute für ein ressourcenschonendes Begleitprogramm zu unserem Saisonabschluss. Wir sehen das auch als Teil unseres Engagements für Nachhaltigkeit und zur Reduktion unseres ökologischen Fußabdrucks. Unser Ziel? Weniger Papierverbrauch und irgendwann auch fast ganz ohne Papier auskommen, um Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu entlasten.
Wir haben eine Fülle an audiovisuellem Material zusammengestellt, das wir Ihnen nun in diesem digitalen Programmheft präsentieren möchten. Neben dem erwähnten Konzertfilm aus dem kleinen Saal der Elbphilharmonie haben wir weitere Filmausschnitte, Interviewmaterial, Playlists und natürlich wie gewohnt Texte zur Werkeinführung für Sie zusammengestellt. Ich möchte Sie herzlich einladen, sich Zeit zu nehmen, schauen und hören Sie sich um!
Und: Ihre Meinung ist uns wichtig! Schenken Sie uns nach der Lektüre noch 5 weitere Minuten, um uns Feedback dazu zu geben: Hier geht es zu unserer Umfrage.
Das Programm hat Tim-Erik Winzer für die Konzertversion des Abends noch etwas angepasst. Arcangelo Corellis Concerti Grossi bilden wieder den orchestralen Rahmen für kapriziöse und virtuose Solotrips aus drei Jahrhunderten. Und wieder wird Ilya Gringolts in diesen eine geigerische Mission Impossible an die andere reihen: Paganini, Sciarrino, Tartini, … »Ensemblekunstwerke treffen auf Inseln kalkulierter Grenzgänge,« so formuliert es unser Programmtexter Jesper Klein. Aber: In dieser Live-Version des Programmes wird wieder mehr zusammengespielt, zum Beispiel mit dem Violinkonzert von Jean-Marie Leclair am Ende des ersten Teils.
Ich wünsche Ihnen einen aufregenden Abend!
Ihr Tobias Rempe
von Jesper Klein
Reiste man in der Zeit zurück und begäbe man sich auf die Suche nach einer europäischen Lösung in der Frage barocker Instrumentalmusik, wäre dieser Name mit Sicherheit häufiger genannt worden: Arcangelo Corelli. Seine Instrumentalmusik strahlte von Italien nach ganz Europa aus, sie erfreute sich auch in Deutschland und England großer Beliebtheit und prägte folgende Komponistengenerationen. Geboren 1653 in Fusignano, zog es Corelli um 1670 zunächst in das nahe Bologna, wo der Geiger möglicherweise seinen ersten Kompositionsunterricht erhielt. Spätestens im Jahr 1675 ging es für Corelli weiter nach Rom. Er dort trat als Violinist bei Oratorien- und anderen Aufführungen in Erscheinung. Corelli wurde als Musiker geschätzt und steigerte, von wohlhabenden Mäzenen gefördert, als Komponist, Orchesterleiter und Geigenvirtuose seine Bekanntheit.
Zu Lebzeiten war »Il Bolognese«, wie er in Rom genannt wurde, in allen drei Disziplinen überaus erfolgreich. Als Geiger spielte er, wie Zeitgenossen berichten, voller Leidenschaft und Intensität. Ein anonymer Hörer aus England schreibt, dass Corellis Augen bei einem Aufritt rot wie Feuer leuchteten. Als Komponist trat Corelli weniger expressiv in Erscheinung. Er stellte hohe Ansprüche an seine Werke, die er nach eigener Einschätzung selbst nicht immer erreichte und übte sich in Bescheidenheit. So leidenschaftlich sein Umgang mit der Geige, so zurückhaltend zeigte er sich beim Komponieren.
Selbst wenn von Corelli lediglich sechs Werkgruppen mit Opuszahl überliefert sind, handelt es sich hierbei um Kompositionen von enormer Bedeutung. Obwohl Corelli in Rom als Violinvirtuose gefragt war, sind von ihm keine Solosonaten erhalten. Vielmehr setzte er zunächst mit seinen Triosonaten nach standardisiertem Modell für zwei Oberstimmen und Generalbass (op. 1 bis op. 5) Maßstäbe und ebnete der Sonate den Weg. Schon sein op. 1 wurde in Amsterdam und Antwerpen nachgedruckt; die folgenden Serien waren gar noch erfolgreicher, sie erreichten in zahlreichen Neuauflagen bald London und Paris. Corelli hatte es, das steht außer Frage, zum international erfolgreichen Komponisten gebracht. Noch im 18. Jahrhundert wurde seine Musik bis nach China und Indien verbreitet.
Nachdem sich Corellis Gesundheitszustand verschlechtert hatte, trat er ab 1712 nicht mehr öffentlich auf. Seine Concerti grossi op. 6 erschienen im Druck erst posthum 1714 in Amsterdam. Entstanden ist diese Zusammenstellung seiner Orchestermusik, die Corelli dem Kurfürsten Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg widmete, jedoch schon ab den 1680er-Jahren. Selbst wenn heute Corellis Landsmann Alessandro Stradella als Begründer der Gattung gilt, führte Corelli das barocke Concerto grosso zu seinem Höhepunkt. In den zwölf Konzerten setzt er den aus den Triosonaten bekannten systematischen Ansatz mit musterhafter Gültigkeit fort. Die Konzerte 1 bis 8 folgen dabei dem Modell der Sonata da chiesa, der Kirchensonate. Die Konzerte 9 bis 12 orientieren sich an der Kammersonate und sind im stile da camera geschrieben. Der Unterschied zeigt sich zunächst in der Form: Nach dem Modell da chiesa beginnt das Konzert mit einem gewichtigen Einleitungssatz; unter den folgenden vier bis sieben Sätzen findet sich mindestens ein schneller, fugierter Satz, der von kontrapunktischen Techniken bestimmt wird. Der Terminus bezieht sich hier nicht nur auf eine mögliche Aufführung in kirchlichem Rahmen, sondern auch auf Würde und Anspruch der Musik. So durchzieht die langsamen Sätze ein ernster Charakter. Die Konzerte im stile da camera hingegen sind nach einem einleitenden Präludium als eine Abfolge von Tanzsätzen angelegt und erweisen sich somit formal als Suite. Für alle Konzerte gilt: Durch ihre kurzen Sätze und kleingliedrigen Strukturen sind sie äußerst abwechslungsreich und kurzweilig gestaltet.
Hört man auf die dialogische Struktur in Corellis Concerti grossi, wird klar, warum der Musikwissenschaftler Jacques Handschin das Zeitalter des Barock als Epoche des konzertierenden Stils beschrieb. Charakteristisch für die Konzerte ist, dass eine aus drei Stimmen bestehende Solistengemeinschaft (das Concertino) dem stützenden Gesamtklang des Orchesters (Ripieno oder Tutti) gegenübertritt. Diese dialogische Anlage findet ihr Vorbild in der Vokalmusik, sie kann als instrumentale Nachahmung der venezianischen Mehrchörigkeit verstanden werden. Die unterschiedlich besetzen Abschnitte und der konzertierende Stil haben dabei auch Auswirkungen auf das musikalische Material. Die wiederkehrenden Tutti-Ritornelle bewegen sich auf festen Tonstufen, die Episoden sind hingegen individueller gestaltet und modulieren auch in entferntere Tonarten.
Dass das Concerto grosso aus der Weiterentwicklung der Triosonate entstand, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Corellis Concerti grossi gerade in festlichem Rahmen mitunter spektakulär ausfallen konnten. Die Gruppe des Concertinos konnte zweifach oder dreifach besetzt sein, zu besonderen Anlässen konnten Trompeten und Posaunen das Ensemble verstärken. Von unserer Vorstellung eines modernen Orchesters liegt das womöglich gar nicht weit entfernt. Aufführungen mit bis zu 150 Musikern müssen bei zeitgenössischen Hörern Eindruck hinterlassen haben. Die Vorstellung eines solchen musikalischen Großereignisses ist mit unserer heutigen Klangvorstellung dieser barocken Konzertmusik allerdings nur schwer vereinbar.
Dabei war es gerade ein Faktor des Erfolgsmodells Corellis, dass seine in puncto Besetzung variablen Konzerte nicht an bestimmte Anlässe oder Orte gebunden waren. Die Zahl der beteiligten Musiker war nicht festgelegt, zudem konnten die Konzerte in weltlichen wie kirchlichen Kontexten aufgeführt werden. Die Einteilung in Konzerte nach dem Modell da chiesa und da camera stellte hierbei kein Hindernis dar. Dies zeigt sich etwa im Konzert Nr. 8, das unter dem Beinamen »Fatto per la notte di Natale« eine steile Karriere als barockes Weihnachtskonzert hinlegte. Die abschließende Pastorale mit ihrem wiegenden Rhythmus, die den direkten Bezug zum Weihnachtsfest herstellt, notierte Corelli ad libitum. Sie kann zu anderen Zeiten des Jahres, falls als störend oder unpassend empfunden, problemlos weggelassen werden. Auch für heutige Klangkörper lassen die Concerti grossi gerade bezüglich der Besetzung verschiedene Möglichkeiten zu. Zu Corellis Lebzeiten waren die Konzerte besonders in England ein großer Erfolg. Zwischen 1776 und 1802 wurden sie fast hundertmal nachweislich zur Aufführung gebracht.
Diese im Barock beliebte Form des Gruppenkonzerts, die in Deutschland von Johann Sebastian Bach in ähnlicher Form in den Brandenburgischen Konzerten erprobt wurde, erwies sich 18. Jahrhundert jedoch bald als Auslaufmodell. Spurenelemente des Concerto grosso können dann nur noch vereinzelt, etwa in Wolfgang Amadeus Mozarts Doppelkonzert oder Ludwig van Beethovens Tripelkonzert, gefunden werden. Trat in Corellis Konzerten kein Geiger entscheidend hervor, rückte im Konzertwesen zunehmend der Solist in den Mittelpunkt des Geschehens. Das Individuum lief dem Kollektiv den Rang ab.
Während es in Corellis Instrumentalmusik weniger um Virtuosität als vielmehr um das systematische Erproben von Modellen der Orchestermusik geht, die letztlich zu Gattungsnormen wurden, zeigen sich die Capricen für Violine solo von Pietro Locatelli, Giuseppe Tartini, Niccolò Paganini und Salvatore Sciarrino von einer anderen Seite. Die Selbstdarstellung des Solisten war folglich nicht nur im zunehmend auf das Solokonzert fokussierten Konzertwesen ein Thema, sie schlug sich auch in den Kompositionen für Violine solo nieder. Der bewusste Verzicht auf tradierte Formen deutet sich schon im Namen der Gattung an: Capriccio. Kapriziös, darunter verstehen wir heute etwas Launenhaftes, Eigenwilliges, mitunter Bizarres. Mit Spielregeln ist das selbstredend weniger gut vereinbar. Die Geschichte des Capriccios und somit die der musikalischen Launenhaftigkeit beginnt im 16. Jahrhundert in Italien, wo der Begriff mit mehrdeutiger Wortgeschichte auf einen besonderen Einfall hinweist.
Wie so oft bei musikalischen Gattungsbegriffen folgte die Ausdifferenzierung und Abgrenzung erst im Nachhinein. Termini wie Capriccio, Fantasia, Toccata oder Canzone meinen zunächst ähnliche Musikstücke; es ist mühselig, sie voneinander abzugrenzen. Wesentlich für das Capriccio sind seine freie Schreibart und formale Ungebundenheit, hinzu kommt die Freiheit des Künstlers beim musikalischen Vortrag. Capriccios wurden für verschiedene Instrumente und Instrumentengruppen geschrieben und konnten programmatische Ideen enthalten. Besonders beliebt waren die Violine und das Klavier, aber auch Vokalkompositionen konnten als Capriccio bezeichnet werden. Allen Ausprägungen ist gemein, dass das Capriccio im Gegensatz etwa zum Concerto grosso nicht von der formalen Anlage, sondern von der musikalischen Eingebung, dem die Komposition prägenden Einfall, aus gedacht ist.
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts schrieben sich Violinvirtuosen zunehmend technisch anspruchsvolle Stücke für den eigenen Bedarf auf den Leib bzw. das Instrument. Dieser Typ des virtuosen Capriccios erreichte mit Niccolò Paganinis 24 Capricen op. 1 seinen Höhepunkt. Der exzentrische Geiger verstand es, in seinem Spiel Kunst und Unterhaltung zu verbinden und präsentierte bei seinen Auftritten komponierte Musik, die wie Improvisation wirkte. Besonders populär aus dieser Sammlung ist heute deren Nr. 24, die zahlreichen Bearbeitungen unterzogen wurde. Der besondere Einfall geht bei Paganini stets mit hohen technischen Anforderungen einher. Die Stücke sind mit Doppelgriffen, Lagenwechseln und abenteuerliche Sprüngen gespickt, Paganini widmete sie bezeichnenderweise »agli artisti«, also den Künstlern, die mit dieser geigerischen Tour de Force beim Publikum reichlich Eindruck hinterließen. Auch wenn hier das spieltechnische Element zweifelsohne im Vordergrund steht, sind die durchaus gehaltvollen Capriccios letztlich doch mehr als bloße Zurschaustellungs- oder Übe-Stückchen. Für die virtuose Violinmusik des 19. Jahrhunderts wurden Paganinis Miniaturen ebenso maßgeblich wie für das Geigenspiel an sich.
Virtuosität also um jeden Preis? Nein. Sagte auch Giuseppe Tartini, der in seinen Capriccios beweist, dass die spielerische Freiheit dieser Form durchaus Melodik und Kantabilität hervorbringen kann. Im 20. Jahrhundert entwickelt sich das Capriccio dann formal und inhaltlich ohnehin ähnlich vielfältig, wie es schon zur Zeit seiner Entstehungszeit auftrat. Die Miniaturen des gefragten italienischen zeitgenössischen Komponisten Salvatore Sciarrino erweisen sich, obwohl auf Paganini Bezug nehmend, als überaus fein und nuanciert ausgearbeitete Klangkunstwerke.
Im Wechsel mit Corellis Concerti grossi gespielt, bringen die Solostücke die Individualität des Einzelnen zum Ausdruck, selbst wenn sich heutzutage Geiger damit nicht mehr profilieren müssen wie einst Paganini. So treffen Ensemblekunstwerke auf Inseln kalkulierter Grenzgänge, Kollektiv und Individuum begegnen sich unmittelbar.
Lilli Thalgott über die Arbeit an dem Konzertfilm »concerti & capricen«
Die Anfrage, das Ensemble Resonanz im kleinen Saal der Elbphilharmonie aufzuzeichnen, hinterließ Vorfreude auf die Schönheit der Musik und der Architektur, auf die Begegnung. Als ich mich das erste Mal durch das Programm hörte, fiel mir das Gegenüber aus vollem Orchester und den teilweise provokativen Solostücken für Violine – den Capricen – auf. Irgendwie lässt sich das gut auf das Hier und Heute übertragen: Einerseits sind wir alle allein, haben das »social distancing« gelernt und mittlerweile verinnerlicht, hängen unseren (manchmal zermürbenden) Gedanken nach; andererseits sitzen wir alle in einem Boot und gehen gemeinsam durch diese Zeit hindurch. Vielleicht gelingt uns das sogar am besten, indem wir uns gemeinsam hindurch »tanzen«?!
Die Musik dieses Programms – nach meinem ersten Empfinden ist das durchaus tanzbare Popmusik aus dem 17. Jahrhundert; dazwischen erklingen dann die teilweise sperrigen Violin-Soli. Das so gegenüber zu setzen, gefällt mir sehr gut: ein Gegenüber von Individuum und Kollektiv. Das ganze Konzert jedoch in einem einstündigen »Musikvideo« zusammen zu fassen, ist eine Herausforderung. Mir war sofort klar, dass wir die Nähe zu den Musiker:innen nutzen müssen, die erst dadurch möglich sein würde, dass kein Publikum im Raum ist. Und wir konnten den Solisten räumlich isolieren, so dass er sich langsam, durch den ganzen Saal hindurch, an das Orchester annähert: Er ist ihr einziger Zuhörer; und die Orchestermusiker hören ihm zu.
Auch im Concerto Grosso gibt es ein Gegenüber und Miteinander – das »Tutti« und die Solistengruppe des Concertino räumlich sowie visuell zu erfassen und filmisch umzusetzen, ist eine spannende Aufgabe. Klar war: Es wird kein klassischer Konzertmitschnitt!
Auf mich wirkt der kleine Saal der Elbphilharmonie durch das Holz und die eingearbeiteten Wellen wie das Innere eines Bauches. In diesem »Bauch« begegnen sich die große Gruppe, der kleine Kreis und der Einzelgänger – und interagieren. Ein schönes Bild.
Der Geiger Ilya Gringolts im Interview
Du spielst in diesem Programm als Solist nicht gemeinsam mit dem Ensemble, sondern ihr teilt die Concerti Grossi und die Capricen untereinander auf. Ist das auch für dich ungewöhnlich?
Sehr ungewöhnlich, so etwas habe ich noch nie gemacht. Ich schätze das Ensemble Resonanz, und die Zusammenarbeit macht immer sehr viel Spaß – insofern ist es fast schade. Andererseits ist es ein reizvolles Konzertprogramm für mich: Es gibt ganz viel Repertoire, das nicht so häufig gespielt wird, und das in diesem Zusammenhang von Concerti Grossi und italienischem Virtuosentum in einem ganz anderen Licht gezeigt wird. Die Werke von Paganini hört man natürlich ab und zu in Konzerten, aber die Stücke von Locatelli, Sciarrino und Tartini kommen fast nie in Konzertprogrammen vor. Dabei sind alle Stücke sehr speziell und von der Gattung her zum Teil bahnbrechend.
Du hast die Werke, die du spielst, gemeinsam mit Tim-Erik Winzer zusammengestellt. Wie seid ihr vorgegangen?
Viele Ideen kamen von Tim-Erik. Ich wusste beispielsweise von Tartinis Piccolosonaten, hatte aber noch keine davon gespielt. Das war also für mich spannend, auf diese Weise ein neues Repertoire zu entdecken. Tim-Erik und ich sprachen das erste Mal direkt vor dem ersten Lockdown darüber, da hatte ich dann plötzlich viel Zeit, mich sehr intensiv mit den Stücken auseinander zu setzen. Das waren an die 100 Seiten von Manuskripten, die ich durchgearbeitet habe, denn die meisten Piccolosonaten sind nur in Form von Manuskripten erhältlich. Es gehörte also auch ein bisschen Archäologie dazu, die Noten zu recherchieren und zu verstehen, was wozu gehört.
Und die neueren Werke?
Sciarrino war auch eine Anregung von Tim-Erik. Wobei ich seine Kompositionen regelmäßig spiele, oft als Begleitstücke zu Paganini. Sie sind direkt von Paganini inspiriert, wobei die Klangwelt dabei eine ganz andere ist. Aber seine Art und Weise, die Geigenvirtuosität aufzugreifen und weiterzuführen, das ist bei Sciarrino sehr besonders.
Wenn man sich mit dem Repertoire für Solo-Geige beschäftigt, fällt auf, dass es in der Zeit wischen Paganini und Sciarrino kaum etwas Neues gab, also zwischen 1840 und 1940. Wie erklärst du dir das?
Ja, das ist interessant. Ich denke, in der Romantik war Klavier das zentrale Technik-Instrument und nicht mehr die Geige, darum haben viele Komponisten für Klavier geschrieben. Die meisten Komponisten waren selbst Pianisten. Ich glaube, wenn wir alle großen romantischen Komponisten nehmen, waren unter ihnen keine Geiger. Bis Sibelius. Aber da sind wir dann schon im Expressionismus des 20. Jahrhundert, da haben sich die Dinge schon geändert... Ja, es gibt tatsächlich eine große Lücke nach Paganini was das Sologeigen-Repertoire angeht, etwa 100 Jahre. Diese Lücke ist leider nicht zu füllen, die ist auch in unserem Programm nicht zu füllen.
Ilya Gringolts auf dem Solo-Trip – so haben wir das scherzhaft im Ankündigungstext beschrieben. Wirst du dich alleine fühlen auf der Bühne?
Man stellt sich schon aufeinander ein. Zuerst habe ich versucht, Bezüge zu den Concertio Grossi zu finden. Einige davon kannte ich, andere nicht. Mit denen habe ich mich dann beschäftigt. Es gibt Ähnlichkeiten, sogar wörtliche Zitate, da taucht zum Beispiel in einer Locatelli-Caprice ein sehr ähnliches Thema wie in einem der Concerti. So etwas findet man, wenn man sich damit beschäftigt. Bei Sciarrino sind die Zusammenhänge weniger spürbar, aber da gibt es diesen roten Faden von Paganini zu ihm. Verbindungen gibt es überall, die sind immer direkt. Und dann versuche ich auch, diese Sachen in den Stoff von Corelli einzunähen, also dass es ineinander übergeht. Ob das gelingt, werden wir sehen.
Bestimmt.
Ja, ich hoffe doch sehr, dass die Dramaturgie funktionieren wird. Die ist in diesem Falle schon sehr ungewöhnlich und sensationell, und – das muss man sagen – wirklich ganz im Sinne von Riccardo Minasi und dem Ensemble Resonanz. Da steckt ein gewisses Risiko drin.
Das ist auch ein technisch anspruchsvolles Programm. Ich habe mal gelesen: Wenn man einmal eine gute Technik hat, muss man nicht mehr viel üben. Stimmt das?
Das stimmt einigermaßen. Im Laufe der Jahre ändert sich aber die ganze Körperhaltung, das muss man der Technik anpassen. Aber um überhaupt eine gute Technik zu haben, muss man irgendwann mal sehr intensiv geübt haben. Das habe ich als Kind gemacht. Als ich 15/16 war, habe ich fünf bis sechs Stunden täglich geübt. Das war für mich Alltag. Und wenn die Basis da ist, dann muss man nicht mehr so viel üben. Überhaupt hat man dann nicht mehr so viel Zeit. Aber die Schwierigkeit in diesem Programm besteht vor allem darin, dass man die meiste Zeit zuhört und nicht spielt. Ich werde da also sitzen oder stehen, zuhören und mich dann quasi mit meinen Kommentaren einschalten. Da ist man natürlich in einer ganz anderen Form, als wenn man beispielsweise ununterbrochen einen ganzen Zyklus von Paganini-Capricen spielt. Da spielt man sich ein. Ich bin sehr gespannt!
Der Name Paganini ist eng mit deiner Karriere verknüpft. Mit 16 Jahren hast du den internationalen Wettbewerb Premio Paganini gewonnen – bis heute bist du der jüngste Gewinner. Dann hast du die Paganini-Capricen allesamt eingespielt vor ein paar Jahren. Was fasziniert dich an diesem Komponisten und Geiger?
Paganini hat mich immer begleitet. Als ich mit 16, also quasi noch als Kind, den Paganini-Wettbewerb gewonnen habe, konnte ich noch nicht mal alle Capricen spielen, vielleicht nicht mal die Hälfte. Alle einzuspielen habe ich etwa 15 Jahre später gemacht – das hat lange gedauert und war ein großes Projekt. Ich finde, die Caprici sind eine Ausnahme in Paganinis Werk. Die passen eigentlich viel mehr in die deutsche Romantik – mit dem ganzen Bildhaften und dem Sturm und Drang. Dagegen sind seine Konzerte und Sonaten Belcanto pur, das ist sehr schön, aber man hat nicht diese Tiefe. Das hat mich immer an den Capricen gereizt, an den meisten zumindest: dass sie mich in diese große Welt von Emotionen bringen. Zum Beispiel sind in den ersten zwei Gruppen fast ausschließlich Moll-Tonarten vorhanden, da fühlt man sich fast wie bei Schumanns Fantasiestücken, eine unglaublich farbenreiche Musik. Und dann kommt noch hinzu, dass Werke für ein einzelnes Instrument eigentlich seit Bach nicht mehr so geschrieben wurden. Bis heute gibt es wenig Beispiele für diese Tiefe.
Du beschäftigst dich aber auch viel mit zeitgenössischem Repertoire. Warst du in letzter Zeit beteiligt an Uraufführungen oder findet pandemiebedingt gerade nichts statt?
In den letzten Monaten habe ich zwei Uraufführungen von Bernhard Lang und Beat Furrer gespielt, sehr unterschiedliche Werke. Beide Aufführungen fanden in München statt, Beat Furrer haben wir im Oktober noch vor die Leute gebracht, das andere Konzert fand ohne Publikum statt. Aber beide kann man im Internet nachhören. Das sind zwei fantastische Repertoire-Neulinge, die ganz sicher bleiben werden. Ich bin immer froh, an so einem Verfahren teilzuhaben, also an der Entstehung neuer Werke.
Genießt du es, dann im Austausch zu sein mit lebenden Komponisten?
Oh ja, der Austausch ist wichtig. Das ist ein großer und schöner Teil meiner Arbeit. Die Zusammenarbeit mit Komponisten ist für mich faszinierend: teilzuhaben an dem Prozess des Schaffens, wie sie über ihre Werke sprechen, auch wenn sie nicht sprechen, wie sie das erleben. Das lehrt einen viel. Dieser direkte Kontakt hilft auch dann, wenn man sich wiederum mit alten Werken beschäftigt. Denn im Grunde ist es dasselbe.
Also, du suchst nach übergreifenden Bezügen?
Absolut. Ich versuche, durch die Beschäftigung mit neuen Werken in die Alte Musik zu kommen und zu verstehen, worum es geht und welche Geschichten versteckt sind. Die Aufgabe des Interpreten ist da die gleiche, sie ist aber aufwendiger, wenn es sich um nicht mehr lebende Komponisten handelt. Das macht wahnsinnig viel Spaß. Das sind zwei Prozesse, die einander nähren. Harnoncourt hat gesagt, je älter das Werk, um so weniger handelt es sich um die Noten. Ohne die Kenntnis der entsprechenden Umstände wie Rhetorik oder Konzertpraxis kann man ein Werk nicht verstehen und nicht spielen.
Das heißt, du liest nicht nur Noten?
Glücklicherweise gibt es viele Menschen, die sich mit solchen Zusammenhängen beschäftigen und sich auskennen. Ich lese viele Bücher, das sind nicht nur pure Wissenschaftsarbeiten, sondern auch spannende Lesestoffe. Ein schöner Ton und gute Technik reicht nicht aus – das versuche ich auch, an meine Schüler hier in Zürich zu vermitteln. Wir müssen uns informieren und persönlich versuchen, dem historischen Ideal näher zu kommen.
Welche Rolle spielt Kammermusik für dich?
Kammermusik ist eigentlich alles, was ich mache – außer, wenn ich solo spiele. Also auch wenn ich mit einem Orchester spiele, ich musiziere mit anderen Menschen, das ist Kammermusik für mich. Man möchte ja nicht alleine spielen, das macht keinen Spaß. Meistens zumindest. Ich habe mein eigenes Streichquartett, wir spielen zwar zurzeit aus bekannten Gründen weniger, aber wir haben viele Projekte in Planung. Das Streichquartett ist für mich das schwierigste und zugleich das beste was es in der Kammermusik gibt.
Erinnerst du dich an die erste Begegnung mit dem Ensemble Resonanz?
Das war spannend. Wir haben »Polyptyque« für Violine und zwei Streichorchester von Frank Martin gespielt und »Tabula rasa« von Arvo Pärt mit der Konzertmeisterin Barbara Bultmann. Das war für mich das erste Mal, dieses gewaltige Stück von Pärt zu spielen. Auch Martin spielt man nicht so oft. Also, auch hier wieder ein besonderes Repertoire mit dem Ensemble Resonanz. Ach, das war eine fantastische Stimmung, eine volle Kirche, so viele Leute...
Nachdem er zunächst Violine und Komposition in St. Petersburg studiert hatte, setzte Ilya Gringolts sein Studium bei Itzhak Perlman an der Juilliard School fort. 1998 ging er als Gewinner des internationalen Violin-Wettbewerbs "Premio Paganini” hervor, als jüngster Finalteilnehmer der Wettbewerbsgeschichte. Neben seiner Tätigkeit als Professor an der Zürcher Hochschule der Künste wirkt Ilya Gringolts regelmäßig als Violin International Fellow am Royal Scottish Conservatoire in Glasgow. Als gefragter Solist widmet er sich neben dem großen Orchesterrepertoire auch selten gespielten sowie zeitgenössischen Werken; daneben gilt sein künstlerisches Interesse der historischen Aufführungspraxis. Ilya Gringolts konzertierte mit zahlreichen namhaften Orchestern, Solo- und Duoauftritten führten ihn untern anderem zum Verbier- und MiTo-Festival. Als Primarius des 2008 gegründeten Gringolts Quartetts feierte er Erfolge unter anderem bei den Salzburger Festspielen und zahlreichen weiteren. Als äußerst geschätzter Kammermusiker arbeitet Ilya Gringolts außerdem mit Künstlern wie Yuri Bashmet, David Kadouch, Itamar Golan, Peter Laul, Aleksandar Madzar, Nicolas Altstaedt, Andreas Ottensamer, Antoine Tamestit und Jörg Widmann zusammen. Seine umfangreiche Diskografie umfasst hochgelobte CD-Produktionen für die Deutschen Grammophon, BIS, Hyperion, Orchid Classics und Onyx.
Minasi-Porträt von Peter Uehling, aus Phil 2023/24 - Heft 1, Das Magazin der Berliner Philharmoniker
Riccardo Minasi ist wahrscheinlich der vielseitigste, neugierigste, virtuoseste, expressivste, kurz: aufregendste Musiker, den Italien in den letzten 50 Jahren hervorgebracht hat. Er begann als Geiger, stürzte sich in die historisch informierte Aufführung von Barockmusik, spielte solistisch und in Ensembles, entwickelte sich vom Konzertmeister zum Dirigenten und arbeitet heute mit allen möglichen Formationen und Organisationen und verfügt über ein Repertoire, das vom Barock bis in die Gegenwart reicht.
Minasi ist ein Musiker, der vor allem eines zu fürchten scheint: die Langeweile – und mit ihr die Gewohnheiten des Hörens, die Routinen der Arbeit, die Besserwissereien der Tradition. Minasi weiß alles über die historischen Bedingungen des Musizierens, und ist doch radikal darin, die Musik, die er macht, in die Gegenwart zu holen. Das sagt man oft so dahin –aber bei Minasi ist es, gerade auch bei Mozart, den er mit den Berliner Philharmonikern aufführen wird, eine schier bestürzende Wahrheit.
Das hat vielleicht mit der besonderen Geschichte der historisch informierten Aufführungspraxis in Italien zu tun. Seinen Ausgang nahm das Spiel auf historischen Instrumenten und unter Anleitung historischer Traktate in Österreich, Deutschland, in den Beneluxstaaten und England, etwas später folgte auch Frankreich. Italien dagegen hielt sich lange fern – ausgerechnet Italien, das in der Barockzeit die Musik nahezu aller anderen europäischen Länder dominierte! Nicht nur waren italienische Musiker in ganz Europa tätig, die Musiker anderer Nationen bis hinauf zu Henry Purcell, Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach lernten vom italienischen Stil. Später wurde die historische Aufführungspraxis, wie wir sie kennen, durch italienische Musik auf die Spur gebracht: Nikolaus Harnoncourt fragte sich, ob Arcangelo Corelli seine Musik wirklich so langweilig gemeint hatte, wie sie in den 1950er-Jahren gespielt wurde. Wer sich in Italien für das Spiel auf historischen Instrumenten interessierte, konnte damals an italienischen Hochschulen nicht viel lernen, sondern musste sich im Ausland fortbilden: bei Ton Koopman in Amsterdam, an der Schola Cantorum in Basel oder in Genf. Die Italiener des Barock schrieben die expressivste, fantasievollste, virtuoseste und zuweilen anarchischste Musik der Welt; wie man ihre Potenziale entfesselt, lernten die Italiener der Moderne allerdings von Nicht-Italienern. Aber sie lernten es auf ihre eigene Art: Italienische Ensembles generieren den Ausdruck mit ausgesprochen virtuosem, körperlichem Zugriff. Entwickelte die historische Aufführungspraxis im Norden ihre Mittel vor allem an Johann Sebastian Bach, also an einer betont intellektuellen Musik mit zuweilen symbolisch verschlüsselter Expression, so musste für die größere Direktheit der italienischen Musik erst eine interpretatorische Sprache gefunden werden. Deswegen zeigen italienische Ensembles bei gleichem Repertoire eine große Frische und Kantigkeit. Ihnen mag dabei der Umstand helfen, dass sie als Späteinsteiger von der ursprünglichen Idee, man könne den historischen Klang wiedererwecken, nicht mehr geprägt wurden. Die Fremdheitserfahrung, die von den ersten, so experimentellen wie akademisch strengen Aufführungen mit historischen Instrumenten ausging, ist längst einer geradezu spontanen Verfügung über ein riesiges Spektrum von Ausdrucksmitteln gewichen. Die Unmittelbarkeit italienischer Musik, ihre expressive Anarchie, ihr radikaler und noch immer moderner Individualismus wird von den italienischen Aufführungspraktikern in besonderer Weise zum Sprechen gebracht.
»Man muss sich immer im Klaren darüber sein, dass wir über Moden reden, wenn wir über Stil sprechen«, sagt Riccardo Minasi und hat der Idee eines historisch authentischen Musizierens damit eine klare Absage erteilt; würde man das wirklich einmal machen, würden »die Leute sagen, die sind besoffen«. 1978 in Rom geboren, konnte Minasi bereits auf dem aufbauen, was die italienischen Pioniere etabliert hatten, ohne sich darauf auszuruhen – im Gegenteil betont er die
Wichtigkeit von Quellenstudien und weiß, dass derlei bei vielen heutigen Formationen nicht mehr für nötig gehalten wird. Als Geiger spielte er in den unterschiedlichsten Ensembles: bei der Accademia Bizantina und Il Giardino Armonico in seinem Heimatland, aber auch in spanischen Gruppen wie Le Concert des Nations von Jordi Savall oder Al Ayre Español von Eduardo López Banzo; er erkundete mit L’arpa festante ein deutsches und mit der Austrian Baroque Company ein österreichisches Ensemble von innen und spielte sogar beim Helsinki Baroque Orchestra im hohen Norden mit. Mit diesen Erfahrungen gründete Minasi 2007 ein erstes Kammerensemble, Musica Antiqua Roma, mit dem er unter anderem Händels Violinsonaten aufnahm.
Die Aufnahmekarriere von Il pomo d’oro begann allerdings mit zwei Alben von Antonio Vivaldi im Rahmen der von dem französischen Label naïve herausgegebenen Einspielung des Gesamtwerks, in denen sich Minasi sowohl als Solist – teils neben dem ebenso unkonventionellen Dmitry Sinkovsky – wie auch als Leiter präsentiert. Die Ergebnisse sind, auch zusammen mit den meist hervorragenden anderen Ensembles in den Gesamtaufnahmen, überwältigend. Der so oft als Fließbandarbeiter verdächtigte Vivaldi erweist sich in Minasis Lesart als geradezu manischer Ausdrucksmusiker. Hier wird kein Ton, keine Phrase gespielt, deren expressive Funktion nicht genau gefasst und zugespitzt wird. Aber es entsteht dadurch kein struppiges Chaos, ganz im Gegenteil wird die Form dieser Musik auf diese Weise plastisch wie nie zuvor. Zum großtaktigen Schaukeln hat der Hörer keine Gelegenheit; das dichte dramatische Geschehen macht die langsamen Sätze psychologisch notwendig: Irgendwann muss man auch mal durchatmen.
Dass in ihm ein Dirigent veranlagt war, erfuhr Minasi erst als Konzertmeister während einer Eugen Onegin-Produktion, als Kent Nagano ihn bat, die Proben vorzubereiten. 2012 war er dann als Konzertmeister Gründungsmitglied und bald auch Dirigent von Il pomo d’oro, einem Orchester von so mitreißender und inspirierender Energie, dass es bald zu einem der liebsten Begleitensembles für Sänger wurde, die Barock-Recitals aufnehmen: Ob Xavier Sabata, Franco Fagioli, Max Emanuel Cencic, Ann Hallenberg oder sogar Joyce DiDonato – sie alle fanden in dem wesentlich von Minasi geprägten Il pomo d’oro Unterstützung, Anregung und deutlich mehr als nur Begleitung. Der gute Kontakt zu solchen Sängerpersönlichkeiten ermöglichte dem Ensemble dann auch schnell repräsentative Opernaufnahmen vor allem von Händels Werken: Mit Tamerlano und Partenope machte sich Minasi als zupackender Operndirigent bekannt.
So ideal Minasi seine Ideen mit Il pomo d’oro auch realisieren konnte – schon im Jahr 2014 dirigierte er erstmals das experimentierfreudige Hamburger Streichorchester Ensemble Resonanz. Es begann eine künstlerisch fruchtbare Zusammenarbeit, die in der laufenden Saison zur Ernennung zum Principal Guest Conductor führte. Minasi verließ mit den modern spielenden Hamburgern den Bereich des historischen Instrumentariums und des barocken Repertoires. Aber auch hier entstanden sofort Aufnahmen, die durch ihre technische, expressive und interpretatorische Qualität auffielen, wobei Technik, Expression und Interpretation bei Minasi ein und dasselbe zu sein scheinen. Schließlich kennt er sich als Geiger mit Spieltechnik bestens aus und gelegentlich spielt er mit der eigenen Violine am Dirigentenpult vor, was er sich vorstellt. Die Symphonien Carl Philipp Emanuel Bachs können in weniger detailversessener Aufführung schnell etwas beliebig und schwach erfunden klingen. Minasi und das Ensemble Resonanz hingegen lassen keinen Ton einfach passieren, schärfen Kontraste und zeigen, dass hier doch das meiste am genau richtigen Platz steht und genau die Gestalt hat, die der erzählerische Verlauf benötigt. Mit diesem Ensemble arbeitete Minasi sich in der Musikgeschichte vor: Nach dem berühmtesten Bach-Sohn folgte mit Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven der Schritt ins klassische Repertoire. Aber hört man die Aufnahme von Mozarts letzten Symphonien, fragt man sich doch, wie bekannt dieses Repertoire denn eigentlich ist. Zu jedem Ton fällt Minasi etwas ein, in jedem Ton liegt einerseits die körperliche Spannung eines neugierigen Spiels, andererseits die geistige Spannung der genau definierten Position im Ganzen, sowohl innerhalb der Phrase als auch innerhalb des polyfonen Gewebes und schließlich auch innerhalb eines rhetorischen Zusammenhangs. Minasi zeigt, wie eigenständig Mozarts Bläserstimmen sind, wie sie ihrer alten Wiener Bestimmung als »Harmoniemusik« entwachsen, wie vielstimmig Mozart das Orchester denkt.
Minasis Neugier dringt selbst in scheinbar abwegige Bereiche vor. Mit seinem Zürcher Orchestra La Scintilla, gebildet aus Musikerinnen und Musikern der Oper Zürich mit Interesse an historischen Instrumenten, hat er etwa die Corona-Pause genutzt, um an den Streichinstrumenten die Stege gleich auszurichten und überall die gleichen Darmsaiten aufzuziehen. Er überlegt, Verdi-Opern mit diesem Orchester auszuprobieren. Seine Einladungen ermöglichen ihm, immer weiter in der Musikgeschichte vorzudringen, zu Wagner, zu Mahler. Wie antwortete Minasi auf die Frage nach dem Spezialisten? »Ich weiß gar nicht, was das sein soll.« Nun ja, ein Spezialist für durchdachtes wie aufregendes, immer wieder Fragen provozierendes und dadurch gegenwärtiges Musizieren ist Riccardo Minasi auf jeden Fall!
Musikhistorische Quellenforschung, energiegeladene Orchesterleitung und eine einzigartige musikalische Vision zeichnen den in Rom geborenen Geiger und Dirigenten Riccardo Minasi aus. Er war Mitbegründer und Leiter des Ensemble »Pomo d’Oro« von 2012 bis 2015, seit 2017 ist er Chefdirigent des Mozarteumorchester Salzburg und seit 2022 Künstlerischer Leiter des Orchesters »La Scintilla« am Opernhaus Zürich. Mit dem Ensemble Resonanz verbindet ihn seit 2014 eine fruchtbare musikalische Zusammenarbeit, die durch die Ernennung als »Principal Guest Conductor« in der Saison 2022/23 eine unbefristete Perspektive erhält. Von der besonderen Verbindung zwischen Dirigent und Ensemble zeugen zahlreiche gemeinsame Konzerte und preisgekrönte CD-Einspielungen mit Werken von C.P.E. Bach (mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras), Haydn, Mozart, Pergolesi und Beethoven – Ergebnisse einer auf mehrere Jahre ausgelegten Zusammenarbeit mit dem Label Harmonia Mundi, in der ausgewähltes Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt steht. Gemeinsam haben sie ein spezifisches Klangbild für dieses Repertoire entwickelt, dem gleichermaßen historisch begründete wie zeitgenössische Interpretationen auf modernen Instrumenten zu Grunde liegen.
Violine
Bogdan Božović*, Gregor Dierck*, Benjamin Spillner*, Barbara Bultmann, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Swantje Tessmann, Hulda Jónsdóttir
Viola
Neasa Ní Bhriain*, David Schlage, Tim-Erik Winzer, Oscar Holch
Violoncello
Saskia Ogilvie*, Saerom Park*, Jörn Kellermann
Kontrabass
Anne Hofmann, Sophie Lücke
Cembalo
Clemens Flick*, Joan Boronat Sanz*
Theorbe
Vanessa Heinisch*
* Solo Concertino
Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen. Das 20-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner an Bord. Geiger und Dirigent Riccardo Minasi ist Principal Guest Conductor / Partner in Crime. Enge Verbindungen ging das Ensemble mit Partner:innen wie der Bratschistin Tabea Zimmermann, der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras, dem Dirigenten Emilio Pomàrico oder der Szenografin Annette Kurz ein. In Hamburg bespielt das Ensemble Resonanz mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum St. Pauli zwei besondere und unterschiedliche Spielorte. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet die Konzertreihe resonanzen, aber auch Kinderkonzerte sowie die Mitwirkung an diversen Festivals. Der resonanzraum im Hochbunker auf St. Pauli, der europaweit erste Kammermusik-Club, ist die Heimat des Ensemble Resonanz.