resonanzen drei
»playground«

Konzertprogramm

»Playground« Auf dem Karussell mit Pauline Oliveros, John Cage, J.S. Bach, Nicole Lizée, Benjamin Patterson, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Tarquinio Merula, Zygmunt Krauze und vielen anderen.

Dai Fujikura (*1977)

Doppelkonzert für Violine und Flöte*

 - Pause -

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Tripelkonzert a-Moll für Cembalo, Flöte, Violine, Streicher und Basso Continuo

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)

Streichquartett Nr. 2 op. 87 B-Dur, Fassung für Streichorchester

Leila Josefowicz Violine
Claire Chase Flöte
Petteri Pitko Cembalo
Barbara Bultmann Dirigentin (Fujikura)
Ensemble Resonanz

Konzertende: ca. 22 Uhr

 

*Ein Kompositionsauftrag von NTR ZaterdagMatinee, der Konzertreihe von Radio 4 im Amsterdamer Concertgebouw, dem Ensemble Resonanz mit der Unterstützung der ZEIT Stiftung Bucerius, dem City of Kyoto Symphony Orchestra und dem Musikkollegium Winterthur mit der Unterstützung der Ernst von Siemens Musikstiftung und der Hoepfner-Stiftung.

»Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«

Schon Schiller hatte es erfasst, das Ensemble Resonanz, Leila Josefowicz, Claire Chase und Petteri Pitko liefern den Beweis: Leichtfüßig zerlegen sie ihre Welt, setzen sie neu zusammen, stapeln Bauklötze des Lebens und lassen Bach aus den Fugen geraten. Zwei Vögel steigen in Spiralen über das tönende Spielfeld und nehmen Schwung auf – für ein Abenteuer des Entdeckens und eine mitreißende Karussellfahrt durch die Grenzenlosigkeit.

Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,  

herzlich willkommen in unserem Konzert »playground«!

Ob im Sandkasten, mit Puppen, beim Fußball, auf der Konzertbühne oder im Theater - schon Schiller wusste: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« Höchste Zeit also, ein resonanzen-Programm ganz auf den Spieltrieb auszurichten. Gemeinsam mit Leila Josefowicz und Claire Chase starten wir heute in einen Abend, der sich aus dem Experiment in die Struktur und aus dem Neuen ins Vertraute entwickelt.

Eine von Tim-Erik Winzer kuratierte Collage von musikalischen Miniaturen macht die Bühne der Elbphilharmonie zu Beginn zu einem Spielplatz der Kammermusik und setzt unterschiedlichste Klangwelten in überraschende Beziehungen. Dai Fujikura steuert ein »Doppelkonzert« für Violine und Flöte bei, über dessen Solostimmen er schreibt, sie seien »wie zwei Vögel, die umeinander herumfliegen - spielerisch, wie beim Fischen der Sätze des anderen, in Einheit fliegend, aufeinander reagierend (und NIEMALS gegeneinander kämpfend, noch mit dem Orchester kämpfend. Keine Kämpfe!).« Das Orchester hingegen sei wie »ein Baum oder ein Wald, gleichzeitig auch wie viele Vögel, die in den Bäumen sitzen, und manchmal reagieren, wenn die beiden ›beschäftigten‹ Vögel herumfliegen.« Nach der Pause runden Johann Sebastian Bachs virtuoses Tripelkonzert für Flöte Violine und Cembalo sowie eine Streichorchesterfassung von Mendelssohn Bartholdys jugendlichem Streichquintett B-Dur den Abend ab. 

Ich wünsche Ihnen einen spannenden Abend!

Ihr Tobias Rempe

Playground - Auf die Plätze, fertig, los!

»Wir sind wie Kinder, die unter Beobachtung zu Hochform auflaufen.« Das sagt Tim-Erik Winzer, Bratschist beim Ensemble Resonanz, über seine Arbeit als Musiker. Winzer hat den Startschuss zu diesem Programm gegeben: Musik vom abenteuerlustigen Dai Fujikara, dazu Kontrapunkte von Bach und Mendelssohn und Playground, ein musikalischer Spielplatz, auf dem Kunst zum Sandburgen- und Luftschlösserbauen einlädt. Hier tummeln sich Formen der US-amerikanischen Improvisationsforscherin und Akkordeonistin Pauline Oliveros, präparierte Texturen des US-Amerikaners John Cage und vieles mehr. Mit ihnen darf gerannt, gerutscht, Karussell gefahren werden. Ausgang ungewiss.

»Mit playground suchen wir eine neue musikalische Form. Wir spielen nicht nur auf und mit unseren Instrumenten, sondern verstehen auch die Partituren als Spielzeug. Wir nehmen sie auseinander, setzen sie überraschend wieder zusammen, vertiefen uns in einzelne Takte und wollen im nächsten Moment alles gleichzeitig spielen. Wir lassen den Werkcharakter hinter uns und begeben uns an die Ufer des flows

Gibt es einen spielfreudigeren Haufen als das Ensemble Resonanz?

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga definierte Spiel als eine freiwillige und zweckungebundene Aktivität, mit einem Ziel, das nur in sich selbst besteht. Das Spiel sei begrenzt in Zeit und Raum und werde begleitet von einem Gefühl der Spannung, der Freude und im Bewusstsein eines Andersseins als im gewöhnlichen Leben.

Weil der Mensch im Spiel neue Welten kreieren kann, sei es zudem Nährstoff kultureller Entwicklung. Nicht nur Dichtung oder Kunst würden daraus erwachsen, sondern auch Systeme wie Politik oder Recht in ihren Anfängen.

So beschreibt es Huizinga in seinem 1938 veröffentlichten Hauptwerk Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Darin stellt er dem denkenden (homo sapiens) und schaffenden Menschen (homo faber) den Menschen als Spieler (homo ludens) an die Seite.

Im spontanen Spiel probiert der Mensch aus und sammelt Erfahrungen abseits des realen Lebens.

Auch im Musikspiel trainiert der Mensch seine Fantasie, vor allem in der Improvisation. Hier kann er in sicherem Rahmen Emotionen nachspüren, Aufmerksamkeit und Gedächtnis trainieren. Die Neurowissenschaft spricht in diesem Zusammenhang von »prädiktivem Kodieren«. Musik trainiert das Gehirn darin, Erwartungen zu überprüfen: Wie entwickeln sich Harmonien, die Melodie, der Rhythmus?

Da kann auch das Publikum mitspielen. Den Fantasien anderer folgen, Kreativität bewundern, Tonverläufe antizipieren, in Erinnerungen schwelgen – und sich immer wieder von Neuem überraschen lassen.

Organisierte Freiheit

Dai Fujikura: Doppelkonzert für Violine, Flöte und Kammerorchester

Energie und Kreativität – diese Elemente des Spiels zeigen sich kondensiert im sportlichen Wettkampf. Ein schweißtreibender Schlagabtausch hier, eine taktische Finte dort, Überraschung, Frust und Freude in kürzester Zeit. Überträgt man solche Scharmützel auf Musik, landet man schnell beim Konzert (lat. concertare = wetteifern). Auch hier bebt im Optimalfall die ganze Arena.

Als musikalische Gattung beschreibt das »Konzert« dabei zunächst die Tatsache, dass gegensätzliche Klanggruppen in einer Komposition »zusammenwirken« (wie sich concertare wiederum aus dem Italienischen übersetzen lässt). Das können Solisten, kleine Instrumentengruppen oder auch Sängerinnen sein – die Zusammensetzung variiert je nach Epoche und Werk. Wesenskern bleibt dabei die Faszination für den Wechsel (manchmal auch das wilde Durcheinander) kontrastreicher Klangquellen. Ohrenbetäubender Straßenlärm kann so – je nach Betrachtung – schon mal zum »Hupkonzert« werden.

Musikgeschichtlich größere Bedeutung ist dabei dem »Vogelstimmenkonzert« beizumessen.

Vögel als vielleicht musikalischste Tiere überhaupt haben Musikerinnen und Musiker schon lange inspiriert. Concerto-Maestro Antonio Vivaldi komponierte zum Beispiel im 18. Jahrhundert das Blockflöten-Konzert »Il Gardellino« – ein schnörkelschönes Denkmal für den Stieglitz.

Und auch Dai Fujikura dachte beim Schreiben seines Konzerts an einen ganz bestimmten Vogel, genauer: an einen Schwarm aus Staren. Die Sperlingsart glänzt nicht nur mit schwarzem Gefieder, das von winzigen weißen Punkten geziert wird und im Sonnenlicht mal violett, mal smaragdgrün schimmert. Der Star hat ein einzigartiges Talent: Er kann andere Vogelstimmen imitieren, wie den Ruf des Mäusebussards oder der Wachtel, und beinahe perfekt Hundelaute oder sogar Rasenmäher-Geräusche nachahmen. Ein ziemlich verspielter Vogel also. Aber auch ein organisierter: In gigantischen Wolken fliegt er zu Tausenden in Formationen, ohne je zusammenzustoßen.

»In meiner Vorstellung verschmelzen die Geigen- und Flötensoli in diesem Stück manchmal zu einem einzigen, wie ein frei am Himmel fliegender Vogel. Die beiden schweben. Gelegentlich in geometrischen Formen wie Kreisen oder Spiralen. Das Orchester malt ein Nachbild ihres Fluges, wie ein Vogelschwarm in Bewegung, ein Schwarm, in dem die beiden den Weg anführen«, so der Komponist über sein Doppelkonzert.

»Obwohl unabhängig, sind die beiden Solisten immer miteinander verbunden, ebenso wie das Orchester mit den Solisten. Gemeinsam synchronisieren sie sich, ein Gemurmel von Staren – ein Schwarm von vielen, die sich wie ein einziger bewegen.«

Dai Fujikura wurde 1977 in Osaka geboren und zog mit 15 nach Großbritannien. Ähnlich der Stare sind seine Werke in Europa und Asien, aber auch in vielen anderen Gegenden heimisch. Seit kurzem zieht nun auch sein Doppelkonzert in wechselnden Konstellationen um die Welt.

Am 11. Januar feierte das Werk im Concertgebouw in Amsterdam Premiere: mit dem Radio Filharmonisch Orkest unter Karina Canellakis. Kurz darauf spielte das Musikkollegium Winterthur unter Vimbayo Kaziboni die Schweizer Erstaufführung. Nun präsentiert das Ensemble Resonanz die deutsche Erstaufführung in Hamburg, gefolgt von einer weiteren Aufführung in Antwerpen. Anschließend zieht das Werk in neuer Besetzung weiter nach Japan.

Das Doppelkonzert hat Fujikura der Geigerin Patricia Kopatchinskaja und der Flötistin Claire Chase gewidmet. Hektisch und schnell, aber auch charmant sollen die Solostimmen wie heranschwirrende Vögel das Werk eröffnen. Nach ausgiebigem Tête-à-Tête landen sie sanft im Orchesterblätterwerk, das aus einem Holzbläserquartett und einer Streichergruppe besteht. Holz schwingt, Luft vibriert, bevor sich das Orchester in eine Vogelschar verwandelt und mit den beiden Staren abhebt. Musik zum Schwärmen!

Wenn aus dem Spiel heiliger Ernst wird

Johann Sebastian Bach: Konzert für Flöte, Violine, Cembalo, B.c. und Streicher a-Moll, BWV 1044 »Tripelkonzert«

Verspielt ist nicht das erste Wort, das in den Kopf schießt, wenn man an IHN denkt, an Johann Sebastian Bach. Er gilt eher als das Gegenteil, als ernster und »gelehrter Komponist« schlechthin. Traditionsbewusst. Mit großer Notenbibliothek ausgestattet. Auch mit einem Hang zum Enzyklopädischen. Immer im Dienste Gottes arbeitend, als wäre das Leben ein ewig währender Gottesdienst. Orgelmusik, Kantaten, Oratorien, Clavier-Übungen, Konzerte hat er geschrieben und so von Mittel- und Ostdeutschland aus fast jede wichtige Gattung seiner Zeit zu höchster Kunst geführt.

 Im Jahr 1746, vier Jahre vor seinem Tod, wurde er vom Leipziger Maler Elias Gottlob Haußmann porträtiert: in zeitüblicher Knotenperücke samt Kantorenrock und silbernen Zierknöpfen. Dazu hält Bach ein Blatt mit dem Canon triplex à 6 Voc: (BWV 1076) in der Hand. Unterkomplexität kann ihm niemand vorwerfen. Das Notenpapier wirkt winzig in seinen Fingern. Ehrfurchtserregend auch die zusammengekniffenen Brauen, die eine Zornesfalte zwischen die Augen werfen. Fast irritierend wirkt der Bachsche Blick, zu eintausend Prozent tiefernst.

Dass er ein leichtes Leben hatte, mag auch niemand behaupten. 1685 in Eisenach in einen Musikerclan geboren, war er mit 9 Jahren bereits Vollwaise. Bei seinem älteren Bruder, der Organist im 40 Kilometer entfernten Ohrdruf war und zu dem er nach dem Tod der Eltern zog, erhielt er den ersten Unterricht auf den Tasteninstrumenten seiner Zeit: Orgel und Cembalo. Das Komponieren brachte Johann Sebastian sich selbst bei, so ist es überliefert, indem er sich alles aneignete und untersuchte, was er in die Finger bekam.

Bach war fleißig. Bach war intelligent.

Schon mit 20 stand für ihn fest: Gott zu Ehren wollte er das »Höchstmögliche aus seiner Kunst machen«. Dafür musste er sich das Reich der Musik mit einer Leidenschaft erobern, die an Besessenheit grenzte.

Bachs a-Moll-Tripelkonzert hat einen unerbittlichen Zug, dem Ausübende wie auch das Publikum atemlos folgen. Einerseits weiß man nie, was als nächstes kommt, gleichzeitig wirkt die innere Logik bestechend. Der grandiose Sog, den die motorisch gleichartige Triolenbewegung im ersten Satz entwickelt, die schier ewig währenden Tonströme, die an Bachs endlose Sätze in Briefen erinnern, entstehen durch die geniale Verflechtung der verschiedenen Stimmen. Pausiert eine, hat die nächste Stimme schon begonnen. Wie sie sich übereinander schieben, miteinander kommunizieren und trotzdem konsequent der eigenen Linie folgen, das lässt sich an Raffinesse und Einfallsreichtum kaum überbieten. Den meisten Komponisten und Komponistinnen nach ihm – Mozart, Beethoven, Wagner, Dmitri Schostakowitsch, Arnold Schönberg oder Nadia Boulanger, ja selbst Lady Gaga, die eine Bach-Fuge zu Anfang und Ende ihres Songs »Bad Romance« erklingen lässt – blieb bei seinen kontrapunktischen Künsten die Spucke weg. Das Tollste daran: Bachs hochintellektueller Stil klingt auch noch gut. Die strenge Polyphonie vollführt er mit überraschenden und schönsten Harmonieverläufen – wie eine gotische Kathedrale, in der sich mathematische Formeln in ein überwältigendes Zusammenspiel von Linien, Farben, Licht und Raum fügen.

Wann und wo das Mastermind sein Tripelkonzert komponiert hat, in Leipzig, Weimar, oder sonst wo, bleibt unter Expert:innen umstritten – klar ist jedoch, dass Bach die musikalischen Bausteine aus älteren Werken recycelte.

Der Mittelsatz basiert auf einem verschollenen Triosatz, den er auch in der d-Moll-Orgelsonate BWV 527 einsetzte. Für die Ecksätze verarbeitete der Komponist sein Präludium samt Fuge a-Moll BWV 894 für Cembalo solo.

Vielleicht wird das Tripelkonzert nicht nur deshalb relativ selten aufgeführt, weil es gleich drei Soloinstrumente fordert. Sondern auch, weil in einer konsumgeilen Welt die Regel gilt, dass recyceltes Material minderwertiger ist als das »Original«.
Bach aber beweist das Gegenteil: Bei so viel Substanz erleidet die Wiederverwertung oder Weiterverarbeitung keinen Qualitätsverlust. Die Musik behält ihren Wert – und ihren spirituellen Kern. Unabhängig davon, ob Bach sie zunächst für weltliche oder geistliche Zwecke konzipierte.

Mit den drei Buchstaben S-D-L. oder ausformuliert »soli deo gloria« – »Gott allein [sei] die Ehre« signierte der Protestant viele seiner Werke. Diese Musik unterliegt einem religiösen Grundsatz. Vielleicht klingt sie auch deshalb oft so erhaben, so entrückt von dieser Welt.

Seine S p i e l w i e s e , wenn man das bei Bach überhaupt so formulieren darf, war die gleichzeitige Organisation mehrerer gleichberechtigter Stimmen, die Kunst der Polyphonie. Und auf diesem Feld hat er das wohl größte und eindrucksvollste Trainingszentrum hinterlassen, wo bis heute jede:r die Weltklasse der Kontrapunktik erforschen und sich an ihr messen kann.

Hinaufgeklettert

Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquintett Nr. 2 op. 87 B-Dur, Fassung für Streichorchester

Als Teenager erhielt Felix Mendelssohn ein spezielles Präsent. Oma Bella überreichte ihm eine Kopie von Bachs Matthäus-Passion. Dornröschengleich hatte das Werk bis dato jahrzehntelang vor sich hingeschlummert. Dass das Geschenk aber einen Spieltrieb auslösen würde, der bis jetzt nichts an seiner Kraft verloren hat, das hätte damals sicher nicht mal die kluge Großmutter geglaubt.

Eine Partitur mit Antiquitätenstatus bekamen wohl auch im 19. Jahrhundert nur Akademikerkinder geschenkt. Doch selbst für eine so umfassend gebildete Familie wie die Mendelssohns war das bemerkenswert. Bachs Musik galt damals als Übungswerk für Klavierspieler und tauchte im Konzertwesen so gut wie überhaupt nicht auf.

Mendelssohns musikalische Ausbildung fußte vor allem auf der Familientradition der Mutter, Lea Mendelssohn Bartholdy, die ihre Kinder zunächst selbst unterrichtete. Ihre Tante hatte als einstige Schülerin von Bach-Sohn Wilhelm Friedemann die Musik der Thüringer Familie gesammelt und förderte die Aufführung der Werke in den Berliner Salons. So wuchs auch Felix Mendelssohn mit Präludien und Fugen auf, mit fantasiereicher Expressivität und der Kunst des Kontrapunkts. Wie sehr ihn Bachs Musik begeisterte, hatte sich in der Familie offenbar herumgesprochen. Seine Großmutter mütterlicherseits, Bella Salomon, schenkte ihm schließlich 1823 oder 1824 eine Abschrift der Matthäus-Passion und legte damit den Grundstein für die Aufführung des Werkes, das Mendelssohn fünf Jahre später mit der Berliner Singakademie und einem Paukenschlag der Öffentlichkeit vorstellte. Danach war die Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert nicht mehr zu bremsen. Mendelssohn hatte die schlafende Königin wachgeküsst.

Wie aufmerksam Mendelssohn Bachs Musik studierte, lässt sich auch in eigenen Präludien und Fugen für Klavier, in Orgelwerken (die Pfeifen waren damals sowas von out!) oder sogar in Mendelssohns Kammermusik ablesen: in seinen Fugen für Streichquartett oder im frühen Es-Dur-Oktett, das im Finale ebenfalls ein wirbelndes Fugenthema bearbeitet.

Auch als Gewandhauskapellmeister in der Bach-Stadt Leipzig fühlte sich Mendelssohn alten Meistern eng verbunden. Neben neueren Werken von Robert Schumann, Ludwig van Beethoven oder anderen Zeitgenossen rückte er historische Musik ins Bewusstsein des Leipziger Abo-Publikums.

Dirigieren, solistisches Konzertieren, Konzeptionieren von Programmen nahmen mehr und mehr Zeit in Anspruch. Da verbrachte Mendelssohn die Sommerpausen nur zu gern abseits der Großstädte, wie im Kurort Soden am Fuß des Taunus. 1844 hatte Mendelssohn dort bereits sein süffig-sehnsuchtsvoll klingendes d-Moll-Violinkonzert vollendet. Ein Jahr später konnte er sich nun endlich seinem zweiten Streichquintett widmen.

In den ersten Takten dieses Werkes scheint der Jubel über die befreite Zeit schier aus dem Komponisten herauszubrechen. Vom tremolierenden Untergrund lässt er die Stimme der ersten Geige triumphierend in höhere Sphären steigen.

Das zweite Streichquintett komponierte er (wie bereits das d-Moll-Violinkonzert) für einen Freund, den Leipziger Konzertmeister Ferdinand David, der sich ein Kammermusikstück in stilo moltissimo concertissimo gewünscht hatte. Mendelssohn, akkurat wie er war, gehorchte auf das Feinste: die erste Geigenstimme setzt er im Streichquintett oftmals von den übrigen vier Stimmen ab und lässt sie virtuos auf rauen Begleitmeeren segeln, während er gleichzeitig für elegante Transparenz sorgt, den romantischen Zeitgeist einfängt und nebenbei auch noch konzertante mit kontrapunktischen Elementen verflicht. Johann Sebastian Bach wäre stolz auf ihn!

Texte von Maria Gnann

Interview mit Leila Josefowicz und Claire Chase

Leila Josefowicz und Claire Chase sind zwei Meisterinnen in der Welt der zeitgenössischen Musik. Die Geigerin Leila Josefowicz begeisterte als Geigenwunderkind und fand in ihren Zwanzigern den Weg über das Repertoire zeitgenössischer Musik zu einer neuen Identität als Musikerin. Claire Chase, Flötistin und Gründerin des International Contemporary Ensemble, gilt als mutige Innovatorin, die immer wieder neue Wege geht, um die Grenzen von Klang und Performance auszuloten. Beide leben in New York, besuchen sich regelmäßig bei Konzerten – und teilen jetzt zum ersten Mal den Spielplatz... äh, die Bühne.
Was war dein Lieblingsspielplatz als Kind – und was hat ihn so besonders gemacht?

Leila: (lacht) Oh, das ist einfach: Ich war die Tetherball-Queen! Tetherball ist vermutlich ein uramerikanisches Spiel – ich habe es jedenfalls noch nie irgendwo außerhalb der USA gesehen. Ein Ball hängt an einer Schnur an einem Pfosten, und zwei Spieler versuchen, ihn mit voller Kraft in entgegengesetzte Richtungen zu schlagen. Das kann entweder ziemlich langweilig sein oder unglaublich anstrengend – und manchmal sogar aggressiv. Während meiner Grundschulzeit war das für mich der perfekte Ausgleich für meinen ganzen Kindheitsstress. Und ich war richtig gut darin. Ich habe also immer mit so großer Wucht zugeschlagen, dass ich mir einmal meinen linken Zeigefinger gebrochen. Mein Vater – er war jemand, der meinte, für jedes Problem eine Lösung zu haben, nicht nur für meine, sondern für alle auf der Welt. Also, mein Vater ging mit mir in ein Sportgeschäft und kaufte mir Boxhandschuhe. Ich kam also mit diesen gigantischen aufgeplusterten roten Dingern auf den Spielplatz und fühlte mich unbesiegbar. Und das war ich dann auch, ich konnte den Ball mindestens 50-mal härter schlagen als alle anderen. Und mein Spitzname war »Everlasting Leila«! Den bin ich übrigens nie wieder losgeworden.

Claire: Ich kann mir die kleine Leila mit ihren roten Handschuhen richtig gut vorstellen – total furchtlos! Das ist schon ein besonderes Spiel: Für Kinder, die einen Ball einfach nur weit werfen wollen, ist das überhaupt nichts. Der Ball ist ja an einem Seil festgemacht, der fliegt nirgendwohin. Es geht vielmehr darum, sich intensiv und sehr kreativ mit Einschränkungen auseinanderzusetzen.   

Leila: Das Konzept »Spielplatz« an sich ist schon spannend. Man soll dort alles Mögliche ausprobieren können, ganz frei und ungezwungen. Und dann landen die meisten Menschen bei den Dingen, die sie am liebsten mögen. Aber so entstehen Gruppen von Menschen, die immer wieder an denselben Orten zusammenkommen – und plötzlich wird daraus eine Art soziales Ereignis.

Tetherball rules auf YouTube.

Welches Spiel oder welchen Moment aus deiner Kindheit erinnerst du, Claire?  

Claire: Bei uns in Leucadia, Nordkalifornien, gab es keine richtigen Spielplätze in Laufnähe. Die Gegend war in den 80ern noch wenig entwickelt, unsere Straße war dunkel, umgeben von verlassenen Kräuterfeldern und Avocado-Hainen. Mein Spielplatz war die Straße – oder eine Pfütze, die sich nach Regen am Ende unserer Auffahrt bildete, die wir »Lake Chase« nannten. Mein Bruder und ich haben Geschichten erfunden, Theater gespielt und ganze Opern mitten in den Avocado-Bäumen inszeniert. Es gab auch ein verlassenes Haus in der Nähe, ziemlich unheimlich und voller Gefahren. Ich kann kaum glauben, dass wir dort spielen durften, aber damals war das so: Unsere Eltern ließen uns morgens raus, und wir kamen erst zum Essen zurück. Das war vollkommen normal, und wir haben selbst aufeinander aufgepasst. Mit meiner Tochter würde ich das heute nicht so machen, aber damals war es ein magischer, wenn auch gefährlicher Spielplatz. Und irgendwie haben wir ja alles heil überstanden. We live to tell the tale…

Das Thema »Spielen« ist ein wunderbarer Ausgangspunkt für ein Konzert! Es prägt unsere Kindheit, aber es zeigt auch, was uns als Menschen ausmacht: bewusst zu sein, lebendig, kreativ, präsent. Und natürlich ist »spielen« auch das zentrale Verb unserer Arbeit als Musiker:innen – in jeder Sprache, ob »playing«, »spielen« oder »jouer«. Es beschreibt unsere Kunst, unsere Aufgabe.

Wo findest du heute deinen Spielplatz oder deine Spielwiese – also einen Ort, an dem du Neues ausprobierst?

Leila: Mein Spielplatz ist in meinem Kopf. Ich liebe es, meine Vorstellungskraft einzusetzen – auch zum Beispiel, wenn ich Noten interpretiere oder neue Ideen entwickle. Ich finde auch Inspiration in Kunstmuseen, visuelle Stimulation bringt mir oft frische Impulse. Aber alles beginnt in meinem Inneren. Ideen müssen in meinem Kopf wachsen, bevor ich sie nach außen bringe – es ist ein Prozess von innen nach außen.

Claire: Für mich ist Musik der ultimative Spielplatz. Sie ist grenzenlos, es gibt keine Einschränkungen, was wir damit machen können. Um meine Fantasie frei entfalten zu lassen, brauche ich heute nicht einen bestimmten Ort, an den ich gehe, sondern eine Atmosphäre. Besonders inspiriert mich meine zweijährige Tochter. Ihr ganzes Leben besteht aus Fantasie und Spiel. Sie erinnert mich daran, präsent zu sein, achtsam, und das Spielerische nicht zu verlieren. Genau das ist es, was wir als Musiker:innen brauchen, aber manchmal aus den Augen verlieren, wenn wir uns zu ernst werden.

Für sein neues Werk, ein Doppelkonzert für Violine und Flöte, beschreibt Dai Fujikura die Beziehung der beiden Solostimmen so: »Es gibt komplexe musikalische Interaktionen zwischen den Solistinnen. Sie sind wie zwei Vögel, die spielerisch umeinander kreisen – einander Sätze zuspielen, im Einklang fliegen, aufeinander reagieren.« Erkennt ihr euch in diesem Bild der zwei Vögel wieder?

Leila: Ich habe noch nie ein Doppelkonzert mit Flöte gespielt – das macht es zu einem echten Abenteuer. Es ist faszinierend, wie unsere Klänge miteinander verschmelzen, sich ergänzen oder auch völlig unterschiedlich klingen können. Es entsteht eine spannende Art von Schwingung – wie Dai Fujikura sagt, wir interagieren wie Vögel miteinander, fliegen auseinander und finden dann wieder zueinander. Claire bringt so viele Farben in ihre Spielweise ein, und es macht großen Spaß, darauf zu reagieren und gemeinsam neue klangliche Möglichkeiten zu entdecken. Und - ich muss das jetzt sagen: Claire hatte diese unglaubliche Bassflöte dabei. Eine atemberaubende Mischung aus etwas wunderschön Organischem und einer gegossenen Metallskulptur aus Terminator 2. Total cool! Und einer der schönsten Klänge, die ich je gehört habe.

Claire: Die Flöte ist für mich ein Instrument mit einer urzeitlichen Energie. Man denkt oft, das sei ein modernes Instrument – die Bassflöte wurde in der Orchestermusik ja erst im 20. Jahrhundert eingeführt. Aber in anderen Kulturen haben diese großen, tiefen Flöten eine unglaublich lange Geschichte. Die Bassflöte hat im Stück nur einen kleinen, aber eindrucksvollen Auftritt ganz am Ende. Das klingt archaisch, fast wie ein Ritual, etwas Ursprüngliches.

Dai Fujikura hat eine wunderschöne musikalische Landschaft geschaffen, voller Bewegung und Energie – manchmal weit und lyrisch, dann wieder intim und nach innen gekehrt. Da gibt es viel Tremolo – für die Geige und das Äquivalent des Tremolos bei der Flöte, die Flatterzunge. Dieses Motiv kommt in dem Stück immer wieder und ist ein zentrales Element, das auch ein Gefühl von Ringen und Kämpfen ausdrückt.

Leila: Ist das, was du immer als frizzante bezeichnest?

Claire: Ich liebe es, dass du es frizzante nennst – wie einen spritzigen Wein! Dai Fujikura spricht hier von ‚fluttered zuma‘ für die Flatterzunge, im Italienischen ‚frulato‘. Dieser flirrende Klang, der zum Beispiel im ersten Moment des Stücks auftaucht, ist unglaublich schön. Am Anfang spielen wir nur zu zweit – Violine und Flöte – ganz ohne Orchester. Das ist ein sehr intimer Moment, der direkt zu Beginn viele emotionale Klanglandschaften eröffnet. Es ist eine Art Tanz zwischen den Stimmen, der sich ständig verändert. Das ist auf kompositorischer Ebene unglaublich mutig von Fujikura, solche komplexen Details direkt zu Beginn einzuführen. Für uns ist das auch extrem herausfordernd – wir haben die ersten drei Minuten des Stücks wahrscheinlich intensiver geprobt als alles andere.

Leila: Und ich glaube, diese Passage werden wir in unseren Proben auch weiterhin immer wieder überarbeiten, denn sie ist sehr exponiert. Diese Interaktion zwischen uns beiden wirklich alles andere als einfach. Welche Gesten wir gemeinsam machen und welche nicht, ist wichtig. Diese klaren akustischen Signale, die wir senden, sind für das Publikum entscheidend, würde ich sagen.

Auch wenn ihr bisher noch gar nicht mit dem Orchester geprobt habt: Wie stellt ihr euch das Orchester vor – wenn ihr zwei Vögel seid?

Claire: Das Spannende an einer Uraufführung ist, dass man vor der ersten Probe so vieles noch nicht weiß. Es geht um Vorstellung – Imagination und Spielplatz, wir haben darüber gesprochen – also, man muss sich das Orchester und seine Rolle vorzustellen und wie wir mit ihnen interagieren, natürlich zusätzlich zu all den Noten auf dem Papier. In meiner Vorstellung steigt das Orchester wie Kräfte aus dem Boden auf, als würde der Winter schmelzen, Eis zerspringen und neues Leben hervorkommen. Je weiter das Stück voranschreitet, desto mehr scheinen die Klänge aus allen Richtungen zu kommen – sie umhüllen uns. Besonders aufregend sind die solistischen Passagen, wenn die Streicher riesige Klangwellen erzeugen und die Bläser darüber schweben.

Leila: Es gibt einen Moment, die Musik ganz sinnlich und poetisch, da stelle ich mir Claire als weise Wahrsagerin mit ihrer uralten Flöte vor. Plötzlich mischen sich die Violinen ein, als wären sie ein ganz anderes Wesen. Claire gibt ihr Bestes, um mit ihrer uralten Flöte zu singen und ein Vogel zu sein, während die Musik plötzlich ruft: »Leute, ändert eure Perspektive! Morgen seid ihr dran! Da, da da da da da da da…« In Charakter, Klang und Rhythmus ist es wie ein Dialog zwischen verschiedenen Welten.

Dann gibt es einen anderen Moment, der mich tief berührt: Die Klänge und Vögel vom Anfang kehren zurück, schaffen eine fast heilige, poetische Stimmung – wie ein ritualhafter Abschluss, getragen von einem mächtigen Bass. Diese Meditation wird kurz von einem rockigen Groove aufgerüttelt, nur um wieder in das Sakrale zurückzufinden. Ich liebe diesen Kontrast!

Claire: Leila und ich hatten einen interessanten Moment in einer Probe, in der wir Soli abwechselten. Nach ihrem Spiel war mein erster Impuls, ihre Energie zu übernehmen, aber Leila hat gesagt: »Geh deinen eigenen Weg.« Das hat alles verändert. Statt sich zu spiegeln, finde ich jetzt neue Rollen – manchmal bin ich die Weise, die das Tempo beruhigt, manchmal folge ich der Energie deines Punk-Rock-Parts. Das Orchester übernimmt dann und führt uns langsam zurück in eine fast kontemplative Stimmung. Plötzlich sind wir in einer anderen Klangwelt: die Bassflöte tief unten, die Geige schwebt in den Höhen – alles wandelt sich, die Instrumente, die Klänge.

In der Mitte gibt es eine kleine Episode für Piccoloflöte und Violinharmonien, die wirklich süß und charmant ist – fast wie ein komisches Zwischenspiel. Es erinnert an zwei kleine Tiere, vielleicht Vögel oder Eichhörnchen, die leicht und verspielt miteinander agieren. Ein ganz unerwarteter Moment, der mit Humor und Leichtigkeit gespielt werden soll, ganz ohne zu viel Nachdenken. Er zeigt eine weitere psychologische Facette der vielen wechselnden Stimmungen dieses Stücks.

Ist es für euch als Solistinnen hilfreich, euch schon vorher oder sogar persönlich zu kennen? Woher kennt ihr euch eigentlich?

Claire: Wir haben bisher noch nie zusammengearbeitet, aber ich bin schon lange ein Fan von Leila. Ich habe sie über die Jahre immer wieder spielen gehört. Wir haben eine gemeinsame Freundin, die Dirigentin Susanna Mälkki. Das ist bestimmt zehn Jahre her, dass wir das erste Mal zusammen ausgegangen sind und mehr gemacht haben, als uns nur bei einem Konzert kurz Hallo zu sagen.

Leila: Und andersrum genauso – ich war auch schon bei vielen Konzerten mit Claire. Es fühlt sich also total natürlich an, ich bin echt happy und begeistert.

Im weiteren Programm spielt ihr das Bach-Triple-Konzert, Geige, Flöte und Cembalo. Wie passt das für euch zusammen?

Leila: Es ist wirklich spannend, ein neues Werk neben ein Werk aus dem 18. Jahrhundert zu stellen, wo diese beiden Instrumente zusammen als Soloinstrumente total üblich sind. Und den Bach in der zweiten Konzerthälfte zu spielen, halte ich für eine sehr kluge Programmierung. Zuerst die neue Musik und danach können alle erst einmal loslassen.

Claire: Ich glaube, wir werden den Bach ganz anders hören und spielen. Jedes Mal, wenn eine trügerische Kadenz im Triple-Konzert auftritt – und das passiert ständig –, bin ich überrascht und finde neue Ansätze, damit umzugehen. Meine Ohren sind so geschärft für die schnellen, dramatischen und farbenreichen texturalen Wechsel im Fujikura, dass ich hoffe, diese Intensität auch an die Zuhörer weitergeben zu können. Das ist ein interessantes Puzzle für den Kopf...

Claire, was hat dich dazu inspiriert, neue Wege in der Flötenmusik und die Interpretation zeitgenössischer Werke zu gehen?

Claire: Wie viele Flötist:innen liebe auch ich das 18. Jahrhundert – es war gewissermaßen das »Jahrhundert der Flöten«. Im 21. Jahrhundert möchte ich alles tun, um neue Flötenmusik zu schaffen: Flötenkonzerte, Kammermusik und die Flöte in allen möglichen interdisziplinären Zusammenhängen – genauso spannend, bahnbrechend und allgegenwärtig wie im 18. Jahrhundert. Für mich ist es eher eine Weiterführung der Tradition als eine Neuerfindung.

Für mich persönlich war das Stück »Density 21.5« von Edgar Varèse in einer meiner Flötenstunden mit 13 der Ausgangspunkt für Neue Musik. Es sind nur vier Minuten Musik, aber als mein Lehrer es mir vorspielte, hat es meine Vorstellungskraft komplett umgehauen. Das Stück ist von 1936 und hatte die Kraft, das Flötenspiel und die Flötenliteratur zu verändern – es vereinte Melodie, rohe Kraft, die Lautstärke eines Blasinstruments und die perkussive Energie eines Schlagzeugs in nur vier Minuten. Das hat mich tief beeindruckt. Wenn ein Werk das in 1936 bewirken konnte, welche Transformation wird es dann im 21. Jahrhundert geben?

Ah, daher der Name deines Projekts »Density 2036«.

»Density 2036« ist ein Projekt, das ich 24 Jahre lang umsetze: Es umfasst jedes Jahr eine neue Programmatik mit 60 bis 80 Minuten neuer Flötenmusik, insgesamt etwa 30 Stunden bis 2036. Darin sind Werke von jüngeren Komponist:innen ebenso wie Meisterwerke der letzten 20 bis 50 Jahre enthalten – alles neu. Jedes Jahr ein anderer Komponist. 2024 war es Terry Riley, 2025 wird es Annea Lockwood sein. Ich erlebe alle Weltpremieren, nehme sie auf und entwickle ein Förderprogramm, sodass junge Flötist:innen die Stücke lernen und ihre eigenen Interpretationen entwickeln können. Mein Ziel ist es, die Idee der endgültigen Version oder Aufnahme aufzugeben. Gerade bei neuen Werken braucht es viele Aufführungen durch verschiedene Musiker:innen, damit das Werk wirklich »lebt«. Viel zu oft ignorieren Verlage und Veranstalter diesen Prozess. Ich möchte ein Ökosystem schaffen, das diese Entwicklung fördert.

Wie wählst du dein Repertoire, Leila?

Leila: Mein Ziel ist es, jedes Jahr mindestens ein großes neues Werk zu präsentieren – manchmal klappt das, manchmal nicht. Dabei sind es nicht immer Weltpremieren, sondern oft auch Stücke, die ein paar Jahre alt sind. Zum Beispiel spiele ich regelmäßig Werke wie Concentric Cast von Thomas Adès oder kombiniere großartige Kompositionen der letzten Jahrzehnte. Es gibt so viele Schätze, die gehört werden müssen, etwa das Violinkonzert von Bernd Alois Zimmermann – einer meiner Lieblingskomponisten, weil er so vielseitig ist. Claire und ich teilen die Leidenschaft für die Entwicklung von neuem Repertoire. Wir glauben fest daran, dass zeitgenössische Werke lebendig bleiben müssen, und widmen dem unser Leben und unsere Karriere. Da sind wir ein Team – zusammen mit dem Ensemble Resonanz.

Was das eine bewusste Entscheidung?

Die Entscheidung war bewusst, aber zugleich auch rebellisch und unbewusst. Der Anfang meiner Karriere war stark von dem traditionellen Weg geprägt – dem Standardrepertoire, die großen Meister, das Musikgeschäft war in den 1990er Jahren komplett anders. Irgendwann habe ich dann bewusst entschieden, einen anderen Weg einzuschlagen, was meinen Blickwinkel und meine Art, Musik zu interpretieren, enorm verändert hat. Das war dann auch mein Antrieb, weiterzumachen.

Besetzung

Leila Josefowicz, Violine

Leila Josefowicz‘ leidenschaftlicher Einsatz für zeitgenössische Musik spiegelt sich in ihren vielfältigen Programmen und ihrer Begeisterung für die Aufführung neuer Werke wider. Als Lieblingsinterpretin vieler lebender Komponist:innen hat Josefowicz zahlreiche Konzerte uraufgeführt, darunter Werke von Colin Matthews, Luca Francesconi, John Adams und Esa-Pekka Salonen, die speziell für sie geschrieben wurden.

In der Saison 2024/2025 wird Josefowicz unter anderem Luca Francesconis Duende – The Dark Notes mit der New York Philharmonic und Susanna Mälkki sowie die britische Premiere von Helen Grimes Violin-Konzert mit dem BBC Symphony Orchestra und Sakari Oramo beim Aldeburgh Festival aufführen. Weitere Engagements beinhalten das Minnesota Orchestra, das London Symphony Orchestra, das Gulbenkian Orchestra sowie die Symphonieorchster von Houston, San Diego, KBS, Singapur, Birmingham, Prag und BBC. Zu den Höhepunkten der vergangenen Saisons gehören Auftritte mit den Berliner Philharmonikern, dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Concertgebouw-Orchester, dem Konzerthausorchester Berlin, dem NDR Elbphilharmonie Orchester sowie den Philharmonischen Orchestern von London, Oslo, Helsinki, Los Angeles, Chicago, San Francisco, Cleveland und Philadelphia, bei denen sie mit Dirigent:innen von höchstem Niveau wie Paavo Järvi, Matthias Pintscher, John Storgårds, Cristian Măcelaru, Thomas Søndergård, Esa-Pekka Salonen, Dalia Stasevska, Hannu Lintu und John Adams zusammenarbeitete.

Josefowicz pflegte eine enge Zusammenarbeit mit dem verstorbenen Oliver Knussen, mit dem sie über 30 verschiedene Konzerte, darunter sein Violinkonzert, aufführte. Weitere Uraufführungen umfassen Matthias Pintschers Assonanza mit dem Cincinnati Symphony Orchestra, John Adams’ Scheherazade.2 mit dem New York Philharmonic, Luca Francesconis Duende – The Dark Notes mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra und Steven Mackeys Beautiful Passing mit dem BBC Philharmonic.

Zusammen mit John Novacek, mit dem sie seit 1985 eng zusammenarbeitet, trat Josefowicz in renommierten Konzertsälen wie New Yorks Zankel Hall und Park Avenue Armory, dem Kennedy Center und der Library of Congress in Washington DC sowie in Reykjavik, Trento, Bilbao und Chicago auf. In dieser Saison setzt sich ihre Zusammenarbeit mit einem Auftritt in Londons Wigmore Hall fort, bei dem sie die Uraufführung von Charlotte Brays neuer Komposition Mriya präsentieren wird. Weitere Kammermusikprojekte für 2024/2025 umfassen Auftritte mit Alexei Tartakovsky beim Newport Classical und Auftritte mit Paul Watkins beim Great Lakes Chamber Music Festival, Santa Fe Chamber Music Festival und Chamber Music Northwest, bei denen denen sie ein neues Werk für Violine und Cello von Sean Shepherd aufführen wird.

Josefowicz hat mehrere Aufnahmen veröffentlicht, darunter für die Labels Deutsche Grammophon, Philips/Universal und Warner Classics, und war auf der gefeierten iPad-App The Orchestra von Touch Press zu hören. Ihre neueste Aufnahme aus dem Jahr 2019 enthält Bernd Alois Zimmermanns Violinkonzert mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra unter der Leitung von Hannu Lintu. Zuvor wurde sie für ihre Aufnahmen von Scheherazade.2 mit dem St. Louis Symphony Orchestra sowie von Esa-Pekka Salonens Violinkonzert mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra für den Grammy nominiert.

Für ihre herausragenden Leistungen und ihre Exzellenz in der Musik wurde sie 2018 mit dem Avery Fisher Prize ausgezeichnet. 2008 erhielt sie ein MacArthur Fellowship, das ihr den Platz unter prominenten Wissenschaftler:innen, Schriftsteller:innen und Musiker:innen sicherte, die einzigartige Beiträge zum zeitgenössischen Leben geleistet haben.

Claire Chase, Flöte

Claire Chase ist Musikerin, interdisziplinäre Künstlerin und Dozentin. Mit großer Leidenschaft widmet sie sich der Schaffung neuer Räume für die Musik der Gegenwart und hat hunderte Werke einer neuen Künstlergeneration uraufgeführt. Im Jahr 2012 erhielt sie als erste Flötistin das MacArthur Fellowship und 2017 den Avery Fisher Prize für klassische Musik.

Chase trat als Solistin mit namhaften Orchestern auf, darunter New York Philharmonic, Los Angeles Philharmonic, Helsinki Philharmonic, BBC Scottish Symphony, Münchener Kammerorchester, London Philharmonia und San Francisco Symphony. In der Saison 2022-2023 brachte Chase ein neues Doppelkonzert von Felipe Lara zur Uraufführung, gemeinsam mit der Sängerin und Bassistin Esperanza Spalding sowie der Dirigentin Susanna Mälkki. Dieses Konzert wurde von der New York Times als eine der besten klassischen Musikaufführungen des Jahres ausgezeichnet. Chases Diskografie umfasst acht Soloalben sowie Dutzende von Aufnahmen mit Ensembles, Komponist:innen und Klangkünstler:innen aus verschiedenen musikalischen Genres.

2013 initiierte Chase das auf 24 Jahre angelegte Auftragsprojekt Density 2036. Ziel des Projekts ist es, das Repertoire für Solo-Flöte neu zu definieren – durch Auftragswerke, Aufführungen, Aufnahmen und eine gemeinschaftsorientierte Kulturproduktion. 2023 wurde das Density Fellows-Programm ins Leben gerufen, das jährlich zehn herausragenden Nachwuchsflötist:innen die Möglichkeit bietet, das Repertoire intensiv mit Chase und den beteiligten Komponist:innen zu erarbeiten.

Als Studentin am Oberlin Conservatory war Chase Mitbegründerin des International Contemporary Ensemble, eines Kollektivs von Musiker:innen, digitalen Medienkünstler:innen, Produzent:innen und Pädagog:innen. Bis 2017 war sie künstlerische Leiterin des Ensembles und wirkte an Aufführungs- und Bildungsprojekten auf fünf Kontinenten mit. Chase ist zudem Professorin für Praxis im Fachbereich Musik an der Harvard University, wo sie Kurse über zeitgenössische Musik, interdisziplinäre Zusammenarbeit und kulturelles Engagement unterrichtet und Creative Associate an der Juilliard School.

Chase wuchs in Leucadia, Kalifornien, auf. Heute lebt sie in Brooklyn.

Petteri Pitko, Cembalo

Petteri Pitko ist ein vielseitiger Musiker, der sowohl in der Alten als auch in der Neuen Musik zu Hause ist. Er tritt regelmäßig als Solist, Kammermusiker und Orchestermusiker mit verschiedenen Ensembles in Finnland und international auf.

Pitko wurde in Finnland geboren und studierte Cembalo an der Sibelius-Akademie in Helsinki, bei Huguette Dreyfus in Paris und bei Prof. Mitzi Meyerson an der Universität der Künste in Berlin.

Als Solist hat er mit renommierten Orchestern wie der Akademie für Alte Musik Berlin, dem Zürcher Kammerorchester, dem Ensemble Resonanz, der Tapiola Sinfonietta, dem Ostbottnischen Kammerorchester und dem Lapland Chamber Orchestra gespielt. Er hat auf zahlreichen europäischen Musikfestivals (Musikfest Berlin, Kammermusikreihe der Berliner Philharmoniker, Ultraschall Festival Berlin, Schleswig-Holstein Musik Festival, Musica Festival Strasbourg, Festival de musique de Besançon, Kuhmo Chamber Music Festival, Time of Music Viitasaari) sowie in den USA, China, Korea und auf den Kanarischen Inseln gespielt. Als Orchestermusiker und Continuo-Spieler hat er mit zahlreichen Ensembles zusammengearbeitet, darunter die Berliner Philharmoniker, der RIAS Kammerchor, der WDR Rundfunkchor, das Stavanger Symphony Orchestra, das Finnish Radio Symphony Orchestra und das Helsinki Philharmonic Orchestra unter Dirigent:innen wie Sir Simon Rattle, Nathalie Stutzmann, Fabio Biondi, Rinaldo Alessandrini, Justin Doyle, Peter Rundel, Beat Furrer, Susanna Mälkki, Hannu Lintu und Sakari Oramo.

Sein besonderes Interesse gilt der zeitgenössischen Musik für Cembalo, und er hat zahlreiche Solo- und Kammermusikwerke von u.a. Misato Mochizuki, Sarah Nemtsov, Willy Merz, Perttu Haapanen, Sebastian Fagerlund, Olli Kortekangas und Jyrki Linjam uraufgeführt.

Von 2018 bis 2022 war Pitko künstlerischer Leiter des Finnish Baroque Orchestra.

Seit dem Wintersemester 2012 hat er eine Professur für Kammermusik und Cembalo an der Novia University of Applied Sciences in Jakobstad inne.

Ensemble Resonanz

Violine
Bogdan Božović**, Gregor Dierck*, Benjamin Spillner*, Barbara Bultmann, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Swantje Tessmann

Viola
Tim-Erik Winzer*, Adam Newman*, David Schlage, Donata Böcking, Barbara Köbele, Aline Saniter

Violoncello
Saskia Ogilvie*, Saerom Park*, Jörn Kellermann

Kontrabass
Anne Hofmann*, Benedict Ziervogel*

Oboe
Risa Soejima

Klarinette
Marco Thomas

Fagott
Volker Tessmann

Horn
Tomás Guerra Figueiredo

** Konzertmeister
* Stimmführer:in

In Residence in der Elbphilharmonie
Zuhause auf St. Pauli

Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen. 

Das 21-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi ist »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« des Ensemble Resonanz. Enge künstlerische Verbindungen ging das Ensemble mit der Bratschistin Tabea Zimmermann, der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras oder dem Dirigenten Emilio Pomàrico ein. Mit der Szenografin Annette Kurz begleitet seit der Saison 22/23 erstmals eine visuelle Künstlerin das Ensemble als Artist in Residence. Auch die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und die Entwicklung eines neuen Repertoires sind ein treibender Motor der künstlerischen Arbeit. 

In Hamburg bespielt das Ensemble Resonanz mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum St. Pauli zwei besondere und unterschiedliche Spielorte. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet die Konzertreihe resonanzen, die in der 22. Saison für Furore sorgt. Aber auch mit Kinderkonzerten sowie im Rahmen diverser Festivals gestaltet das Ensemble die Programmatik des neuen Konzerthauses entscheidend mit und setzt Akzente für eine lebendige Präsentation klassischer und zeitgenössischer Musik. 

Der resonanzraum im Hochbunker auf St. Pauli, der europaweit erste Kammermusik-Club, ist die Heimat des Ensemble Resonanz. Hier laden die Musiker:innen monatlich zu der Konzertreihe urban string, die von den Ensemble-Mitgliedern gestaltet und im Dialog mit der Musik internationaler DJ- und Elektronik-Künstler:innen präsentiert wird. Auch die an die Konzerte angedockten ankerangebote, die das Publikum zu neuen Erfahrungsräumen rund um die Programme laden, finden zum großen Teil hier statt: von werkstätten über hörstunden bis zu den Philosophie-Gesprächen im bunkersalon. Der resonanzraum wurde 2017 für sein innovatives Programm zum Hamburger Musikclub des Jahres gewählt, zudem erhielt er verschiedene Architektur-Preise wie den AIT-Award oder den Publikumspreis des BDA. Die Reihe urban string wurde 2016 mit dem Innovation Award der Classical Next ausgezeichnet. 

Ausgehend von Hamburg gastieren die Musiker:innen auf diversen Festivals und an den führenden Konzerthäusern weltweit und lassen von Wien bis Tokio ein begeistertes Publikum zurück.