Das Programmheft ist digital! Lest und schaut und hört vor dem Konzert oder danach. Währenddessen lieber den Blick auf die Bühne richten oder im Saal umherschweifen lassen. Und die Ohren öffnen für das, was kommt. Im Anschluss an das Konzert steht Euch wieder alles zur Verfügung.
Playground – Auf die Plätze, fertig, los!
Organisierte Freiheit - Dai Fujikura: Doppelkonzert für Violine, Flöte und Kammerorchester
Wenn aus dem Spiel heiliger Ernst wird - Johann Sebastian Bach: Konzert für Flöte, Violine, Cembalo, B.c. und Streicher a-Moll, BWV 1044 »Tripelkonzert«
Hinaufgeklettert – Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquintett Nr. 2 op. 87 B-Dur, Fassung für Streichorchester
György Ligeti: Konzert für Violoncello und Orchester
Pavel Haas: Von den Affenbergen
Meditation über den altböhmischen Choral »St. Wenzeslaus« op. 35a
Anton Kraft (1752-1820)
Cellokonzert in C-Dur op. 4
I Allegro aperto
II Romanze: Andante
III Rondo alla Cosacca: Moderato
Pause
György Ligeti (1923-2006)
Konzert für Violoncello und Orchester
Pavel Haas (1899-1944)
Streichquartett Nr. 2 op. 7 »Von den Affenbergen« - Fassung für Streichorchester & Schlagwerk
I Landschaft: Andante
II Kutsche, Kutscher und Pferd: Andante
III Der Mond und ich: Largo e misterioso
IV Wilde Nacht: Vivace e con fuoco
Jean-Guihen Queyras Violoncello
Johannes Fischer Dirigent (Ligeti)
Ensemble Resonanz
Konzertende: ca. 21:30 Uhr
Ein altböhmischer Choral und Landschaften aus Wäldern und Nebelschleiern, aus denen expressive Gipfel emporragen wie schlafende Giganten. Auf Zehenspitzen tanzen sie zu Pavel Haas‘ Melodien Mazurka und Polka und fallen am Ende mit Trommeln aus Zeit und Form. Ligeti besitzt es, das vorwärts- und rückwärtsreichende Gedächtnis, und fordert am Cello Grenzen und Gesetze heraus. Das Spiel mit dem Machbaren mochte auch Anton Kraft, er hatte damit schon seine Zeitgenossen Haydn und Beethoven beeindruckt.
Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,
herzlich Willkommen zur neuen Spielzeit, herzlich Willkommen in unserem Konzert »from the monkey mountains«!
Dieses Programmheft präsentieren wir Ihnen in digitaler Form. Sie finden hier alles, was Sie von unseren gedruckten Programmheften gewohnt sind, ergänzt um zusätzliche Angebote zum Hören, Sehen und Lesen und ich wünsche Ihnen viel Freude mit dem neuen Format! Ihre Rückmeldungen nach dem Konzert »concerti & capricen« in der vergangenen Saison haben uns ermutigt, diesen Weg für die ressourcenschonende Gestaltung unserer Programmhefte weiterzuverfolgen.
Übrigens: Schon vor dem Konzert finden Sie den passenden Link auf der Webseite der Elbphilharmonie und in unserem Newsletter (Hier für den Newsletter anmelden!).
Die Affenberge aus dem Titel von Pavel Haas‘ Streichquartett verweisen auf den böhmischen Unterton dieses Konzertprogramms. Der hier folgende Text von Renske Steen bietet Ihnen eine unterhaltsame Einstimmung zu dieser Grundschwingung, natürlich inklusive der Geschichte des sagenumwobenen Landespatrons Wenceslaus samt Auftragsmord und Heiligsprechung. Ihm ist der Choral von Josef Suk gewidmet, der unser Programm eröffnet.
Wir freuen uns sehr, dass Jean-Guihen Queyras wieder in den resonanzen zu Gast ist und darüber hinaus eine wahre Sensation im Gepäck hat. Das Konzert in C-Dur op. 4 von Anton Kraft kann möglicherweise als eine der größten Herausforderungen gelten, die Cellist:innen überhaupt im Repertoire finden können. Kraft war selbst Cellist und als Schüler Haydns, Kammermusikpartner Mozarts und Freund Beethovens einer der präsentesten Musiker seiner Zeit. Eine Einspielung des Cellokonzerts von Anton Kraft von Jean-Guihen Queyras mit dem Ensemble Resonanz und Riccardo Minasi ist gerade bei Harmonia Mundi erschienen. Die Aufnahme und einen kurzen Film aus dem Studio finden Sie unten verlinkt.
Das Cellokonzert von György Ligeti, ähnlich virtuos, versetzt uns direkt ins 20. Jahrhunderts. »Kein roter Teppich für den fulminanten Auftritt des Solisten – wie es sonst in Konzerten doch normal war. Stattdessen nimmt Jean-Guihen Queyras das Skalpell und schneidet genau an der Grenze zwischen der absoluten Stille und dem kaum Hörbaren, zwischen Klang und Geräusch,« schreibt unsere Programmtexterin. Und: »Ein Anti-Konzert mit hypnotischer Wirkung. Ein Konzert, an das man sich erinnert, bevor es passiert.«
Zum Abschluss reisen wir in die besagten »Affenbergen«, auch bekannt als Riesengebirge oder Krkonoše, die vor fast genau einem Jahrhundert den tschechischen Komponisten Pavel Haas zu einem expressiven Werk voller Emotionen und Kontraste inspirierten.
Ich wünsche Ihnen einen aufregenden Abend!
Ihr Tobias Rempe
Sorry, wir sind ein bisschen früh dran. Eigentlich beginnen die tschechischen Festtage erst kurz vor dem 28. September, dem Todestag des Heiligen Wenzels. Dann versammelt sich alle Welt auf dem Václavák, wie der Wenzelsplatz in Prag genannt wird. Und zwar am berühmten Reiterstandbild, das der Bildhauer Josef Václav Myslbek 1912/13 erschuf, dem »böhmischen Nabel der Welt«.
Dass dieser Wenzel heute so für das Böhmische – und damit das Tschechische – steht, hat er eigentlich seinem jüngeren Bruder Boleslav zu verdanken, der zwar erst seine Ermordung beauftragte, sich dann aber für die Heiligsprechung einsetzte und damit den Grundstein für den bis heute andauernden Wenzel-Kult legte. Natürlich alles im Namen der katholischen Kirche und der feinen adeligen Gesellschaft.
Denn so richtige Pluspunkte hatte Wenzel auf seinem Herrscherkonto nicht sammeln können – wie auch: Er wurde ja nur 21 Jahre alt. Mit 13 ernannte man ihn zwar zum Fürsten der Přemysliden, die Regentschaft wirklich ausüben sollte aber lieber seine Mutter. Später ließ er eine Kapelle an prominenter Stelle auf der Prager Burg bauen, was damals noch eine kleine Sensation war. Die elbslawischen Stämme rundherum waren dem Christentum einigermaßen skeptisch gegenüber eingestellt und fanden solche Bauten dementsprechend überflüssig.
Mit dem sich auf Beutezug befindlichen ostfränkischen König Heinrich I. legte Wenzel sich nicht kämpferisch an, sondern versuchte, über diplomatische Verhandlungen voranzukommen. Das wurde ihm (vor allem von seinem jüngeren Bruder) als Schwäche ausgelegt, eventuell war es aber ein gar nicht so schlechter Move? Vielleicht ist die Heiligsprechung nach der Ermordung deswegen auch als – zu späte – Wiedergutmachung des Bruders zu verstehen? Aus heutiger Sicht wirkt das alles jedenfalls etwas, sagen wir mal: undurchsichtig und ein bisschen perfide.
Immerhin wird jetzt jedes Jahr am 28. September der Heilige Wenzel geehrt, als Landespatron für das gesamte Volk, als Synonym für die böhmische Krone. Und seit 2000 ist es sogar der »Tag der tschechischen Staatlichkeit«. In Hamburg diesmal schon am 12. und 13. September und mit ungarischer Unterwanderung. Aber dazu später mehr.
1913 war die Reiterfigur auf dem Prager Wenzelsplatz enthüllt worden. Identitätsstiftend für die Tschechen, die inzwischen schon seit vielen Jahrzehnten die drittgrößte Ethnie in der Habsburgermonarchie stellten, mitten im stark umworbenen Gebiet zwischen Österreich und Ungarn. Das Sagen hatte aber natürlich Kaiser Franz Joseph I., der zu diesem Zeitpunkt schon ganz schön alt war, aber in Ermangelung eigener Kinder immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Thronfolger. Er entschied 1914, dass jedes Konzert in »seinem« Gebiet mit der österreichischen Kaiserhymne beginnen müsse. Aus einer Laune heraus.
Josef Suk spielte im Böhmischen Streichquartett Geige, er hatte es 1892 mitgegründet. Seit kurzem trat das Ensemble auch als Tschechisches Quartett auf. Und jetzt sollten die vier Musiker einen fremden Kaiser zu Beginn jeden Konzerts begrüßen? Das gefiel natürlich überhaupt nicht. Wie eine kleine Rebellion muss es sich angefühlt haben, als das Quartett beschloss, der österreichischen Hymne etwas nachzustellen, etwas Böhmisches.
Den Choral »Svatý Václave« kannten alle von ihren Kirchengängen. Anfang des 12. Jahrhunderts tauchte er zum ersten Mal auf, ursprünglich hatte er drei Strophen, im Laufe der Zeit wurden weitere ergänzt. Im Grunde genommen handelt es sich bei dem Kirchenlied um ein gesungenes Gebet zum Heiligen Wenzel, man bittet ihn um Hilfe und Schutz. Lange galt das Werk als inoffizielle Nationalhymne, nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 wurde sogar ernsthaft über die Anerkennung des Lieds als Staatshymne diskutiert.
Vier Jahre vorher entschied Josef Suk, dass genau dieser Choral die richtige Ergänzung zur Kaiserhymne sei. Es gab damals einige andere Anwärter, zum Beispiel »Kde domov můj« (Wo ist mein Heim, mein Vaterland), was später dann tatsächlich zur offiziellen Staatshymne ernannt wurde, oder »Hospodine, pomiluj ny« (Herr, erbarme dich), das traditionell bei Krönungszeremonien auf dem Programm stand. Der Charakter des Wenzel-Choral unterscheidet sich davon aber erheblich: Er wurde vor allem in der Zeit der Unterdrückung zu einem Symbol im Kampf um Freiheit, Unabhängigkeit und nationale Selbstbestimmung.
Auf dem Sockel des erwähnten Denkmals stehen die ersten und letzten Worte aus dem Choral: »O heiliger Wenzel, Herrscher des böhmischen Landes, lass uns in Zukunft nicht untergehen.« Für seine Version verwendete Suk eine phrygische Variante des Chorals, die 1668 zum ersten Mal veröffentlicht worden war. Er komponierte vier Episoden, die den vier Choralteilen entsprechen. In der dritten Episode legte er besonders viel Wert auf die Ausgestaltung einer Melodie, die die Textpassage »Lass uns und unsere Nachkommen nicht zugrunde gehen« begleitet. Ein Insider, ein zusätzlicher Seitenhieb. Die vierte Episode ist dann etwas versöhnlicher oder vielmehr mit Zuversicht, sie endet in beinahe mystischem A-Dur.
An nur einem Tag komponierte Josef Suk dieses mit Meditation betitelte Stück für sein Streichquartett, wenig später richtete er sie auch für Streichorchester ein und fügte dabei eine Kontrabass-Stimme hinzu. Die tschechische Antwort auf »Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land!«
Ob auch Anton Kraft am 28. September am Denkmal des Heiligen Wenzel in Prag stand und die böhmische Krone feierte, ist nicht überliefert. Er hätte es aber tun können. Denkmal und Platz gab es bereits zu seinen Lebzeiten, die Legende dazu sowieso.
Anton Kraft wurde 1749 in Rokycany in der Region Pilsen in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren. Da bekam er Musikunterricht, er lernte Cello, wohl von seinem Vater. Als Jungstudent hatte er Unterricht bei einem Cellisten der Prager Kreuzherrenkirche. Ein echtes, richtiges Studium nahm er dann aber in Wien auf – und zwar in Rechtswissenschaften. Das war sicherlich standesgemäß, aber der junge Anton Kraft war einfach zu gut als Cellist. Er verdiente sich neben dem Studium ein bisschen was bei der kaiserlichen Hofkapelle dazu und erregte so viel Aufsehen, dass er kurz danach das Jurastudium schmiss und Erster Cellist der Hofkapelle von Fürst Nikolaus I. von Esterhazy wurde. Und wer leitete noch mal dieses Orchester? Genau, Joseph Haydn.
Was dann folgte, ist der kometenhafte Aufstieg des Cellisten Anton Kraft. Er muss so unglaublich und virtuos gespielt haben, dass ihn alle sehen, hören und kennenlernen wollten. Haydn nahm ihn als Kompositionsschüler, Mozart spielte mit ihm Kammermusik, Beethoven wollte sogar sein Freund sein. Er bekam Stücke auf den Leib geschrieben, brachte alle wichtigen Werke der Zeit zur Uraufführung, bereiste ganz Europa und wurde überall mit tosendem Applaus empfangen.
Und wie es meistens so ist, kommen Musiker dann auf die Idee, dass sie auch komponieren können. Das ist nicht immer von Erfolg gekrönt, bei Anton Kraft aber glücklicherweise durchaus so zu bezeichnen. Er schrieb einige Cellosonaten, sein viertes Opus ist das Cellokonzert, das 1804 veröffentlicht wurde. Es entstand somit zur selben Zeit wie Beethovens Eroica und das Tripelkonzert. Mozart war schon 13 Jahre tot, Joseph Haydn auf dem Höhepunkt seines Ruhms.
Das Cellokonzert ist vordergründig ein rundum klassisches Werk, sowohl im formalen Aufbau als auch in der Behandlung der Klangsprache und Motivik. Was es so besonders macht, sind die außerordentliche Anforderungen, die es an den Solisten (oder die Solistin) stellt. Auf allerhöchstem technischem Niveau, gerade auch, wenn man bedenkt, zu was die Instrumente mit Darmsaiten und ohne Stachel eigentlich so in der Lage waren, muss hier abgeliefert werden. Das konnte damals natürlich nur Anton Kraft selbst. Triolen, Doppelgriffe, schnelle Läufe über mehrere Oktaven, die ganze Palette an Virtuosität. Und zwischendurch schleichen sich noch so ein paar romantische Vorgriffe ein. Klingt da nicht doch schon ein bisschen Schubert an? Bestimmt nicht mit Absicht, denn das wäre ein bisschen zu viel der Genialität. Aber es macht einfach Spaß, sowohl den Musiker:innen als auch dem Publikum.
Kaiser Franz Josef I. war noch nicht lange gestorben, als György Ligeti 1923 in Diciosânmartin geboren wurde, im vor allem von Ungarn besiedelten Siebenbürgen, das nun – nach dem Friedensvertrag von Trianon – zum Königreich Rumänien gehörte. Und damit kommt der Brückenschlag auch schon zu seinem Ende. Denn nichts an Ligetis Konzert für Violoncello und Orchester ist besonders ungarisch, böhmisch, tschechisch, österreichisch. Die Nationalitäten-Brille kann man an dieser Stelle also getrost absetzen.
Den Blick sollte man, wenn möglich, trotzdem nach vorn in Richtung Bühne lenken. Denn auch in diesem Werk widmete sich Ligeti – wie auch schon im ebenfalls 1966 entstandenen »Lux Aeterna« – der Grenze des Hörbaren. »Evoziert wird die Vorstellung von Unendlichkeit. Erweckt wird der Eindruck, dass die Musik bereits da war, als wir sie noch nicht hörten, und immer fortdauern wird, auch wenn wir sie nicht mehr hören.« So hatte György Ligeti es beschrieben, was er sowohl mit »Lux Aeterna« als auch mit dem Cellokonzert erreichen wollte.
Früher hatten Komponisten sich gescheut, ein Konzert für ein Soloinstrument zu schreiben, das leicht vom Orchester übertönt wird und schwer herauszuhören ist – Ligeti erfand einfach extra unhörbare Passagen fürs Orchester.
Der Musikwissenschaftler Heinz von Loesch untersuchte sogar einmal die unterschiedliche Wirkung des Werks auf den Rezipienten – je nach dem, ob das Publikum live dabei war oder eine Aufnahme über Kopfhörer oder Lautsprecher hörte. Denn da kommt der visuelle Reiz ins Spiel. Wer die erst lange nach dem notierten Beginn hörbar werdenden Aktionen der Musiker:innen auf dem Podium sieht, nimmt anders und anderes wahr, als wer sich das Konzert begleitet vom unvermeidbaren Knistern und Rauschen der zum Zeitpunkt der Untersuchung ausschließlich in Benutzung befindlichen Schallplatte anhört.
Kein roter Teppich also für den fulminanten Auftritt des Solisten – wie es sonst in Konzerten doch normal war. Stattdessen nimmt Jean-Guihen Queyras das Skalpell und schneidet genau an der Grenze zwischen der absoluten Stille und dem kaum Hörbaren, zwischen Klang und Geräusch. Achtfaches Pianissimo. So steht es in den Noten.
So gegensätzlich die beiden Sätze des Konzerts beim ersten Hören scheinen, sie sind doch eng miteinander verbunden. Alles, was im ersten musikalisch im Keim angelegt ist, kommt im zweiten Satz zum Blühen. Die Entwicklungen im ersten Satz sind kaum wahrnehmbar, der zweite beginnt schon mit einer ruhigen, zarten Bewegung, die immer weiterwächst. Aus sich selbst heraus, so scheint es zumindest, dabei ist hier nichts determiniert und auch nicht zwingend aufeinander folgend. Was im ersten Satz im verlorenen, brüchigen Flageolett-Ton des Solo-Cellos endet, wird am Schluss zur von Ligeti selbst so genannten »Flüsterkadenz«: Verhuscht, geräuschhaft, ein bisschen hektisch und damit genau das Gegenteil des verharrenden Stillstands.
Ein Anti-Konzert mit hypnotischer Wirkung. Ein Konzert, an das man sich erinnert, bevor es passiert. Oder um es mit einer Sequenz aus Ligetis Lieblings-Geschichte zu definieren: »Ich kann mich nie an etwas erinnern, bevor es geschieht,« bemerkte Alice. - »Eine dürftige Art von Gedächtnis, wenn es nur nach rückwärts reicht«, stellte die Königin fest. (aus Lewis Carroll: Alice hinter den Spiegeln)
Sommererinnerungen – sind die sowohl vorwärts als auch rückwärts reichend? Pavel Haas würde das wohl bejahen. Er verbrachte diese Wochen oft auf den Affenbergen, einer beliebten Urlaubsgegend und Naherholungsgebiet der Brünner im Böhmisch-Mährischen Hügelland. Traf man da wirklich Affen? Wohl kaum. Aber es war anscheinend doch so inspirierend, dass Pavel Haas selbst es bezeichnete als »das Einfangen einiger starker Eindrücke, die ein sorgloser Sommeraufenthalt auf dem Lande hervorrief.«
Und so sorglos klingen auch die Titel der einzelnen Sätze: »Landschaft«, »Kutsche, eKutscher und Pferde«, »Der Mond und ich« und die »Wilde Nacht«. Pavel Haas war grade 26 Jahre alt geworden, er hatte kurz zuvor mit Diplom die neu gegründete Kompositionsklasse von Leoš Janáček absolviert, hatte sich als Komponist, Pianist und Lehrer schon so etwas wie etabliert, war Teilhaber im Brünner Schuhgeschäft des Vaters geworden. Außerdem war er im Klub der mährischen Komponisten tätig, arbeitete auch mal als Kritiker oder gab Noteneditionen heraus.
Seine Familie war jüdischer Abstammung, das spielte zu diesem Zeitpunkt keine allzu große Rolle. Die kleine Liebesgeschichte mit einer Marie Jarůšková musste allerdings vermutlich deswegen nach zwei Jahren beendet werden. Haas war traurig und hatte Liebeskummer, wie man das so hat mit Anfang, Mitte Zwanzig: Mit ein bisschen Wut und Ablenkung ging es im nächsten Sommer wieder zu den Affenbergen. Ein schöner Sommer, der an einem vorüberzieht und das Erinnerungsglas anfüllt.
In dem Streichquartett, das im Anschluss an diesen Sommer entstand, findet man deshalb aber auch eine Erinnerung an Marie. »Als ich gekommen bin, hat mein Mädchen noch geschlafen« ist ein tschechisches Volkslied, das immer mal wieder durchklingt. Ansonsten ist da wenig volkstümlich oder spätromantisch. Pavel Haas war unglaublich gut darin, die U-Musik seiner Zeit für den Auftritt im Konzertsaal fit zu machen.
Am wichtigsten ist natürlich, dass der Rhythmus stimmt: Charleston, Jazz, Swing. Dass im letzten Satz ein Schlagzug dabei ist, ist natürlich eine gute Idee, Pavel Haas schreibt es aber zuerst nicht vor, sondern liefert lieber eine gesonderte Stimme. Doch ein bisschen zu viel für die damaligen Verhältnisse?
Bei der Uraufführung 1926 in Brünn war das Schlagzeug definitiv dabei, für die Veröffentlichung als Notentext nahm Pavel Haas es dann raus. Ob und wie oft die Schlagzeug-Stimme in den Jahren danach Beachtung fand, war lange Zeit nicht ganz klar. Der Musikwissenschaftler Ondrej Pivoda hat erst vor wenigen Jahren eine kritische Urtext-Ausgabe herausgegeben und dafür die ursprüngliche Fassung rekonstruiert. Seinen Forschungen zufolge gab es immer wieder Aufführungen mit Schlagzeug, was auch durchaus positiv angenommen wurde. Pavel Haas hatte trotzdem in seinen Noten bestimmte Anweisungen einfach überklebt. Und Pivoda war der erste, der das abknibbelte und genauer nachlas.
Sorglose Sommeraufenthalte hatte Pavel Haas nach 1926 noch ein paar, aber nicht mehr viele. Er wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Seine Musik geriet in Vergessenheit, sie wird erst seit 20 Jahren wieder nach und nach hervorgeholt. Vielleicht warten da noch ein paar mehr solcher Schätze.
Texte von Renske Steen
Vom galanten Stil bis zur Revolutionszeit: Ein halbes Jahrhundert Cellokonzert-Geschichte auf einem Album! Nach der preisgekrönten ersten Aufnahme mit Musik von C.P.E. Bach lassen uns Jean-Guihen Queyras, Riccardo Minasi und das Ensemble Resonanz die emotionale Tiefe von Anton Kraft hautnah spüren und würdigen die transzendente Virtuosität dieses völlig zu Unrecht verkannten Musikers und Komponisten.
Riccardo Minasi
Jean-Guihen Queyras
Tim-Erik Winzer, Ensemble Resonanz
Neugier und Vielfalt prägen das künstlerische Wirken von Jean-Guihen Queyras. Auf der Bühne und bei Aufnahmen erlebt man einen Künstler, der sich mit ganzer Leidenschaft der Musik widmet, sich dabei aber vollkommen unprätentiös und demütig den Werken gegenüber verhält, um das Wesen der Musik unverfälscht und klar wiederzugeben. Wenn die drei Komponenten –die innere Motivation von Komponisten, Interpret und Publikum – auf derselben Wellenlänge liegen, entsteht ein gelungenes Konzert.
Johannes Fischer wird von der Presse als der Klangzauberer unter den Schlagzeugern gefeiert. Mit ungeahnter Leichtigkeit, impulsiver Spielfreude und Einfühlsamkeit berührt der vielseitige Künstler sein Publikum. Der 1. Preisträger des ARD- Musikwettbewerbs beweist, dass es als Schlagzeuger nicht nur darum geht, das Klischee eines virtuosen Kraftaktes zu erfüllen. Mühelos begeistert Johannes Fischer seine Hörer auch mit den poetischen Qualitäten seines umfangreichen Instrumentariums, dem er eine faszinierende Vielfalt magischer Klänge entlockt.
Violine
Barbara Bultmann**, Wojciech Garbowski**, Gregor Dierck*, Benjamin Spillner*, Swantje Tessmann*, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Mona Burger
Viola
Tim-Erik Winzer*, Miguel Erlich*, David Schlage, Christian Marshall
Violoncello
Saerom Park*, Claude Frochaux*, Lea Tessmann
Kontrabass
Sophie Lücke*, Benedict Ziervogel*
Flöte
Christina Fassbender, Seher Karabiber
Oboe
Risa Soejima, Gonzalo Mejia
Klarinette
Marco Thomas, Regine Müller
Fagott
Volker Tessmann, Michaela Špačková
Horn
Tomás Guerra Figueiredo, Florian Cason
Trompete
William Forman, Tobias Fehse
Posaune
Bärbel Leo
Pauken
Francisco Anguas Rodriguez
Schlagzeug
Johannes Fischer
Harfe
Gesine Dreyer
** Konzertmeisterin
* Stimmführer:in
Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen.
Das 21-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Der Geiger und Dirigent Riccardo Minasi ist »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« des Ensemble Resonanz. Enge künstlerische Verbindungen ging das Ensemble mit der Bratschistin Tabea Zimmermann, der Geigerin Isabelle Faust, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras oder dem Dirigenten Emilio Pomàrico ein. Mit der Szenografin Annette Kurz begleitet seit der Saison 22/23 erstmals eine visuelle Künstlerin das Ensemble als Artist in Residence. Auch die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und die Entwicklung eines neuen Repertoires sind ein treibender Motor der künstlerischen Arbeit.