A Filetta & Ensemble Resonanz

Das Ensemble Resonanz präsentiert 2023 das zweite Programm aus dem Körber Resonanz Labor und widmet sich gemeinsam mit dem Vokalensemble A Filetta aus Korsika der vielschichtigen, korsischen Polyphonie.

Über viele Jahrhunderte hat sich auf Korsika eine einzigartige Vokal­tradition entwickelt, die 2009 zum Unesco­-Weltkulturerbe ernannt wurde und seitdem eine neue Blütezeit erlebt. »Paghjella« heißt dieser mündlich überlieferte mehrstimmige und unb­egleitete Männergesang, der heute auf frühbarocke Instrumentalkunst und zeitgenössische Klangwelten trifft. Dafür geht das Ensemble Resonanz einen spannenden Dialog mit der korsischen Vokalgruppe A Filetta ein, die sich seit Jahrzehnten um das klingende Erbe ihrer Heimatinsel bemüht.

Ensemble Resonanz & A Filetta im Körber Resonanz Labor

Hier treffen sakrale Gesänge auf alte und mikrotonale Musik. In Workshops finden die Ensembles zusammen, befragen sich selbst, werden von Catherine Lamb zu einem radikal utopischen Klangkörper verbunden, der, auf die Welt hörend, wie ein einziges Instrument zu klingen scheint.

Programm

John Adams (*1953)
Maclaren Summit / aus: The Wind in High Places für Streichquartett (2011)

A Filetta
Agnus Dei di i defunti

György Ligeti (1923–2006)
Passacaglia ungherese (1978)

A Filetta
A Paghjella di l’impiccati

Valentin Silvestrov (*1937)
Nachklänge einer Sarabande / aus: Drei Stücke für zwei Violoncelli (2018)

Jean-Claude Acquaviva
U Sipolcru

Dario Castello (1602–1632)
Decima Sonata à tre / aus: Sonate concertate in stil moderno, libro primo (1644)

A Filetta
U Casticu

Biagio Marini (um 1587–1663)
Sonata sopra la Monica für zwei Violinen und Basso continuo op. 8/45

A Filetta
Sumiglia

Catherine Lamb (*1982)
modi in cascada für sechs Stimmen und Streichorchester (2021/22)

Besetzung

A Filetta
Jean-Claude Acquaviva, Seconda, Komposition
François Aragni, Bassu
Jean-Do Bianco, Bassu
Petr' Antó Casta, Seconda
Paul Giansily, Terza
Maxime Vuillamier, Bassu

Ensemble Resonanz
Barbara Bultmann, Violine
Benjamin Spillner, Violine
Maresi Stumpf, Viola
Thomas Kaufmann, Violoncello
Pirkko Langer, Violoncello
Sophie Lücke, Kontrabass
Petteri Pitko, Cembalo

Elisa Erkelenz, Dramaturgie
Sebastian Schottke, Klangregie

Moderne Archaik - Korsische Raritäten im Wechsel der Zeit

Traditionelle korsische Vokalpolyphonie, frühbarocke Instrumentalmusik und neuere Werke mit und ohne Gesang – diese abenteuerliche Kombination verspricht viel Abwechslung, lädt aber auch dazu ein, versteckte Bezüge und Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Mehrstimmiger Männergesang in den drei Stimmlagen Seconda, Terza und Bassu hat in der korsischen Volksmusik eine lange Geschichte, die allerdings nie genauer dokumentiert wurde. Rein mündlich wurden die Lieder und Gesangstechniken von Generation zu Generation weitergegeben, bis sie im 20. Jahrhundert fast in Vergessenheit geraten wären. Ab den 1970er Jahren hauchten Gruppen wie A Filetta der Tradition neues Leben ein. Die weltlichen wie auch religiösen Lieder der sogenannten »Paghjella« widmen sich unterschiedlichsten Themen: Das Spektrum reicht von Totenklage über Krieg, Exil und Gefängnis bis zu Arbeit, Heimatverbundenheit und natürlich Liebe. Die Harmoniefolgen stehen dabei stets fest, doch die Schnörkel und Verzierungen der Oberstimmen lassen auch Raum für Improvisation. Ähnlich verhält es sich oft bei den Instrumentalstücken des Frühbarock. Anders als die korsischen Volksgesänge sind sie zwar in Notenschrift überliefert, doch längst nicht so detailliert, wie dies im 18. und 19. Jahrhundert zum Stan­dard wurde. Eine bezifferte Bass­-Stimme und ein dürres Melodiegerüst müssen von den Ausführenden mit Leben erfüllt werden.

Unter den beiden Barockstücken des Programms weist Biagio Marinis Sonata sopra la Monica eine besondere Nähe zur Improvisation auf. La Monica (in modernem Italienisch »La monaca«, die Nonne) war der Titel eines europaweit verbreiteten Volksliedes. Die damaligen Instrumentalisten nutzten solche Melodien ähnlich wie heutige Jazzmusiker einen Standard: Während die Basslinie stetig wiederholt wurde, übertrafen sich die Oberstimmenspieler gegenseitig mit immer virtuoseren Diminutionen, brachen also die langen Töne der Originalmelodie in schnellere Umspielungen auf. Ma­rini, der diese Praxis schriftlich festhielt, war einer der ersten bedeutenden Geigenvirtuosen. Er begann und beendete seine Laufbahn in Venedig, diente aber auch jahrelang an deutschen Adelshöfen.

Für die Moderne steht unter anderem das Werk modi in cascada für sechs Stimmen und Streichorchester der in Berlin lebenden Bratschistin und Kom­ponistin Catherine Lamb. Es entstand eigens für die Zusammenarbeit von Ensemble Resonanz und A Filetta.

Catherine Lamb »modi in cascada«

Geboren 1982 in Olympia, der Hauptstadt des US­-Bundesstaats Washington, brachte Lamb bereits mit elf Jahren ei­gene Stücke zum Klavierunterricht mit. Für die US­-Amerikanerin war das Komponieren schon damals eine mathematische Aufgabe, eine Frage der Berechnung. Ihre meditativen, unendlich langsamen Klangwelten nutzen nicht die vertraute wohltemperierte Tonleiter, in der alle Töne denselben Abstand haben wie die Tasten auf einem Klavier, sondern eine reine bzw. »rationale« Stim­mung, wie sie sie selbst nennt. Sie basiert auf den Berechnungen der griechischen Antike und bestimmt die Intervalle nach perfekten mathematischen Verhältnissen: Oktave 1:2, Quinte 2:3, Quarte 3:4 und so weiter. Dabei können interessante mikrotonale Verschiebungen entstehen, die schon Pythagoras beschäftigten. So ist es letztlich nicht die Komponistin, die mit Klang expe­rimentiert, sondern die vorgeprägten Ohren des Publikums, das hier zum aktiven Zuhören aufgefordert wird.

Von Lambs 35 Jahre älterem Lands­mann und Minimal­-Music-­Vertreter John Adams steht ein Quartettsatz auf dem Pro­gramm. Maclaren Summit ist der zentrale Abschnitt des Streichquartetts The Wind in High Places, das durch Landschaften in Alaska inspiriert wurde. Ausschließlich Flageoletts sind darin zu hören – natür­liche Obertöne also, die entstehen, wenn man die Finger der linken Hand nur leicht die Saite legt, statt diese aufs Griffbrett zu drücken. Der Effekt lässt ein wenig an eine Äolsharfe denken – ihre Sai­ten bringt ja der Wind zum Klingen. Und auch hier entstehen natürliche Intervalle, die von der standardisierten Klavier­stimmung abweichen.

Noch intimere musikalische Momente versprechen die 2002 komponierten Nachklänge einer Sarabande für zwei Vio­loncelli von Valentin Silvestrov. Der wohl bekannteste Kom­ponist der Ukraine ließ nach dem völkerrechtswidrigen russischen Überfall seine Kiewer Wohnung und den vielbe­spielten Flügel hinter sich und übersiedelte nach Berlin. Der Titelzusatz »Quasi Violoncello solo« spielt darauf an, dass die beiden Stimmen so liebevoll und einfühlsam miteinander kommunizieren und aufeinander reagieren, als wären sie eins, als würden die sie interpretierenden Instrumentalisten nur ein einziges Instrument »zu vier Händen« spielen.

Bezüge sowohl zum Barock als auch zur Volkstradition verspricht György Ligetis Werktitel Passacaglia ungherese. Das Wort »Passacaglia« meint eine alte Tanzform, bei der sich eine kurze Basslinie stetig wiederholt. Darüber entfal­ten sich Oberstimmen­Variationen, die bei Ligeti durch bestimmte rhythmische Muster eine »ungarische« Anmutung bekommen. Noch archaischer wirkt die Musik dadurch, dass der Komponist für das Cembalo eine mitteltönige Stimmung vorschreibt. Diese in der Barockzeit gebräuchliche Art der Stimmung ergibt in einigen wenigen Tonarten besonders reine Zusammenklänge. Nutzt man dagegen wie Ligeti sämtliche zwölf Halbtöne, dann klingt vieles »verstimmt« – oder nach einem völlig fremdartigen, vielleicht volkstümlichen Tonsystem.

Audio: Konzertmitschnitt aus der Kölner Philharmonie (21. August 2022)

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