Das Programmheft ist digital! Lest und schaut und hört vor dem Konzert oder danach. Währenddessen lieber den Blick auf die Bühne richten oder im Saal umherschweifen lassen. Und die Ohren öffnen für das, was kommt. Im Anschluss an das Konzert steht Euch wieder alles zur Verfügung.
Sinfonie in Es-Dur op. 55 »Eroica«
I Allegro con brio
II Marcia funebre (Adagio assai)
III Scherzo (Allegro vivace)
IV Finale (Allegro molto)
Clemens K. Thomas & Jochen Voit
Bericht »21 Tage auf See – An Europas Grenzen« nach Tatsachenberichten von der Sea-Watch 3
Jasmin Tabatabai Sprecherin
Riccardo Minasi Dirigent
Clemens K. Thomas und Ensemble Resonanz Idee & Konzept
Ensemble Resonanz
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Interaktives Forum:
Nach dem Konzert und einer Pause lädt das Ensemble Resonanz zu einem Publikumsgespräch und macht den Großen Saal zum Forum: Auf dem Podium diskutieren Naika Foroutan (Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin), Jana Puglierin (Politikwissenschaftlerin, Leiterin des Berliner Büros des Think Tanks European Council on Foreign Relations) und Max Czollek (Lyriker, Essayist, Kurator, Politikwissenschaftler) mit dem Publikum im Saal über Europa, Beethoven und die Grenzen des Konzertformats. Moderation: Thilo Braun
Mitmachen: https://www.menti.com/alsn8usjrasz
Konzertende: ca. 22 Uhr
Beethovens Musik scheint untrennbar verbunden mit unserer Vorstellung von Europa. Seine Dritte, die »Heldenhafte«, wird im Konzertsaal zum Manifest der Aufklärung, zum kühnen Soundtrack der europäischen Ideale von Demokratie und Freiheit. Was passiert mit dieser suggestiven Kraft, wenn angesichts komplexer Herausforderungen an den Grenzen Europas Menschenrechte und Humanität zur Disposition stehen, was passiert mit uns, wenn wir feststellen, dass unsere Werte an diesen Grenzen enden?
Liebe Freundinnen und Freunde des Ensemble Resonanz,
wir würden uns freuen, Sie in unserem Konzert »euroica« begrüßen zu dürfen!
Die Musik, die wir auf den Bühnen von Konzertsälen spielen, hat zu einem überwiegenden Anteil ihre Wurzeln in Europa. Als europäische Kunstmusik ist sie tief mit der Geschichte des Kontinents verbunden. Sie scheint das Echo großer Fragen, Ideen und Fortschritte in sich zu tragen. Dies gilt in ganz besonderer Weise für Ludwig van Beethoven: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, Menschenrechte, Humanismus – all diese Werte, die uns Europäer:innen als Anspruch oder Errungenschaft am Herzen liegen, scheinen die Aura des Komponisten Beethoven zu durchdringen. Und als wie schön, wie kraftvoll, der Macht gestaltender Hände sicher und auf eine bessere Zukunft gerichtet wir das alles immer wieder hineinhören können!
In diesem Konzert nehmen wir Sie mit in eine sehr gegenwärtige Begegnung mit dieser großartigen Musik und ihren vielfältigen inspirierenden und bewegenden Bedeutungsebenen. Ihre als Soundtrack für das Wertegebäude Europa erworbene Bedeutung trifft auf einen Tatsachenbericht der jüngeren europäischen Geschichte, der unsere so oft mit Beethoven beschworene Selbstwahrnehmung herausfordert: Den Text »21 Tage auf See – Bericht von den Grenzen Europas« von Clemens K. Thomas und Jochen Voit, eine Geschichte der Irrfahrt der Sea-Watch 3 im Juni 2019, als das Schiff mit 53 geretteten Schiffbrüchigen drei Wochen lang in keinen europäischen Hafen einlaufen durfte.
Wir hoffen, Ihnen eine Eroica zu präsentieren, die ins Herz trifft, wie nur Musik ins Herz treffen kann. Vor allem, weil Riccardo Minasi und das Ensemble Resonanz mit Beethoven den Weg fortsetzen, den sie bereits mit ihrem aufregenden Zugriff auf Mozart eingeschlagen haben. Aber vielleicht auch durch den Konflikt, den der Text in den kulturell eingespielten Doppelpass zwischen Beethoven und europäischem Selbstbewusstsein bringt.
Dieser Abend ist noch mehr als sonst in unseren Programmen ein Erlebnis mit offenem Ausgang. Und wir würden gerne mit Ihnen zusammen besprechen, wohin er uns geführt hat. Sie sind herzlich eingeladen, nach dem Konzert und einer kleinen Pause wieder in den Saal zu kommen und im Rahmen unseres interaktiven Saalgesprächs mit Naika Foroutan, Max Czollek und Jana Puglierin das Erlebte nachwirken zu lassen und zu diskutieren.
Ich wünsche Ihnen einen bereichernden Abend!
Ihr
Tobias Rempe
Geht es um Beethovens »Ideenkunstwerke«, dann muss ich an den Filmregisseur Werner Herzog denken. Der spricht in seiner Klaus-Kinski-Doku »Mein liebster Feind« einmal über eine legendäre Szene ihres gemeinsamen Films »Fitzcarraldo«: Darin lässt der exzentrische Titelheld, der partout im peruanischen Amazonasgebiet ein Opernhaus errichten will, seinen Flussdampfer über einen Berg mitten im Dschungel ziehen. Und Herzog sinniert darüber im Rückblick, er finde das nach wie vor eine großartige Metapher, er wisse nur nicht, wofür.
Ähnlich geht es mir (und vermutlich auch anderen Hörerinnen und Hörern) mit Beethovens Ideen, die so pathetisch pulsieren: eindrucksvoll und expressiv, enorm sprechend – aber worum geht’s genau, bitte? Der Musikwissenschaftler Martin Geck, von dem der auf Beethoven bezogene Begriff Ideenkunstwerk stammt, formulierte es in seiner Kürzesten Geschichte der Musik allgemeinstmöglich und auf die ganze Gattung bezogen: »Sinfonie – Was willst du mir sagen?« Ab Beethoven jedoch, vor allem ab der Eroica genannten 3. Sinfonie, verschärft sich diese Frage akut.
Diese Sinfonie in Es-Dur von Ludwig van Beethoven war das erste Werk der Musikgeschichte, das im deutschen Sprachraum auf breiter Ebene »besprochen« wurde. Sogar den konkreten Ort und Zeitpunkt des Wirkungsnovums nennt Martin Geck, und zwar in seiner Mozart(!)-Biographie: Es war die Allgemeine Musikalische Zeitung, Leipzig, Februar 1807. Was uns heute selbstverständlich erscheint, nämlich das eloquente Ergründen und Erklären von Musik, war Geck zufolge etwas Neues, das denn auch die Beethoven-Epoche von der Welt Mozarts scharf abgrenzt:
»Mit der Eroica sind die Zeiten vorbei, in denen sich eine Komposition zumindest vordergründig ›rein gesellschaftlich‹ vermittelte: Ideenkunstwerke bedürfen augenscheinlich der Erklärung; und für solche erscheint die erste große Zeitschrift für Musikliebhaber geeignet, zumal der Verlag Breitkopf & Härtel, der sie verlegt, damals viele Werke Beethovens herausbringt und deshalb interessiert ist, seinen Lesern den großen, aber schwierigen Meister angelegentlich zu empfehlen. Und um solches geht es bis heute: Kunstmusik nach Mozart bedarf, um eine Aura bilden und erhalten zu können, verbalen Räucherwerks.«
Jedes Programmheft ist so eine kleine Räucherkammer (natürlich auch der Text, den Sie gerade lesen). Wobei es uns Hörerinnen und Hörern gut 200 Jahre später manchmal vielleicht eher um die Frage geht: Wie könnte man den ganzen Rauch, der sich ins Werk eingebissen hat, bloß wieder fortbekommen?
Da hatte es Louis Ferdinand leichter. Dieser hochmusikalische Prinz von Preußen ließ sich die unbekannte neue Es-Dur-Sinfonie seines Freundes Ludwig (oder Louis) van Beethoven im Sommer 1804 auf dem Landgut des Fürsten Lobkowitz exklusiv vorspielen. Und zwar gleich dreimal hintereinander, um einigermaßen durchzublicken. Keine schlechte Methode, die später auch Pierre Boulez als den besten Weg zum »Verstehen« schwierig scheinender neuer Musik empfahl: mehrfach anhören!
Als Louis Ferdinand diesem Rat des noch längst nicht geborenen Boulez folgte, war Beethovens neue, dritte Sinfonie öffentlich noch gar nicht aufgeführt worden. Zum einen ließ Beethoven das Werk auch aus finanziellen Gründen erstmal im Kreise seiner so hochadligen wie fortschrittlich gesinnten Gönner kursieren. Zum anderen wollte er sein neues Werk selbst quasi unter Laborbedingungen erproben. Noch vor der prinzlichen Dreifach-Vorführung auf dem Lande ließ Beethoven es Ende Mai und Anfang Juni 1804 im städtischen Palais Lobkowitz mehrere Male vor Zuhörern durchspielen. Dabei unterbrach er die Musiker auch, nahm Änderungen vor.
Wenn man heute als beflissener Wientourist den noch existierenden »Eroica-Saal« im Palais Lobkowitz besichtigt, erkennt man auf den ersten Blick: Auch bei der offiziellen nicht-öffentlichen Uraufführung vor exklusivem Publikum am 9. Juni 1804 kann dort keinesfalls eine philharmonische Besetzung im heutigen Sinn aufgetreten sein. Die Wiener Philharmoniker gab es sowieso noch lange nicht. Tatsächlich bestand das Lobkowitz-Orchester aus lediglich 27 Musikern, und geleitet wurde es von keinem Toscanini oder Karajan, sondern schlicht und zeitgemäß vom ersten Pult aus, an dem der Konzertmeister Anton Wranitzky fiedelte.
Ansonsten aber war (zumindest für Wiener Verhältnisse) kaum etwas an dieser Sinfonie schlicht und zeitgemäß. Eleonore Büning hebt in ihrem Buch Sprechen wir über Beethoven hervor, dass gerade die aus heutiger Sicht winzige Besetzung die Besonderheiten der Musik ohrenfällig machen musste:
»Die Blasinstrumente sind absolut dominant. Es sitzen genauso viele Bläser auf dem Podium wie Streicher. Das muss man sich klarmachen, um die Wucht des ersten Eindrucks zu begreifen und die Ratlosigkeit, die damals aus den Publikumsreaktionen spricht: Zu lang sei diese Symphonie, ›bei aller Verwebung der Instrumente‹ zu verworren und schwierig zu verstehen, fanden die einen. Sie wünschten, dass ›sich B. entschließen wollte, sie abzukürzen‹. Andere sagten ›zu laut‹ oder ›viel zu stark instrumentiert‹. Der Korrespondent der Allgemeinen musikalischen Zeitung meinte, es sei ›des Grellen und Bizarren allzu viel‹.«
Leichter als den Wienern eingeleuchtet hätte es vielleicht Pariser Ohren, die mit den militäraffinen Pauken-und-Trompeten-Klängen etwa des Komponisten Étienne-Nicolas Méhul vertraut waren. Diesen Méhul und überhaupt die damaligen französischen Revolutionskomponisten schätzte Beethoven. Seine später Eroica genannte Dritte hatte er 1803 tatsächlich auch in Hinsicht auf einen angestrebten Umzug nach Paris geschrieben.
Es kam anders, nach den Durchläufen des lobkowitzschen Hausorchesters 1804 wurde die Sinfonie am 7. April 1805 dann auch öffentlich aufgeführt, nicht an der Seine, sondern im Theater an der Wien, und 1806 gedruckt veröffentlicht.
Der Dreifachhörer Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der übrigens auch ein meisterhafter Komponist war (man lerne nur einmal sein Klavierquartett f-Moll Opus 6 kennen), gehört zu den heißen Kandidaten für den »grand‘uomo«. Wer war das, der da auf dem Titelblatt dieser ersten Druckfassung 1806 erscheint? In der nachgereichten Betitelung, aus der sich dann auch erst der Name Eroica herleitet? Sinfonia eroica, steht da, composta per festeggiare il sovvenire di un grand’uomo (»Heroische Sinfonie, komponiert zur Feier der Erinnerung an einen großen Mann«).
Möglicherweise kam diese Zueignung erst auf den letzten Drücker zustande, nachdem der weithin verehrte Louis Ferdinand dem Säbel eines französischen Husaren namens Jean-Baptiste Guindey zum Opfer gefallen war, am 10. Oktober 1806 als Kommandeur einer preußischen Vorhut bei Saalfeld, im Vorfeld der Schlacht von Jena/Auerstedt. Die Erstausgabe der Eroica wurde am 19. Oktober in der Zeitung angezeigt. Und eines Louis Ferdinand allerwürdigst wäre ja nun nicht nur die musikalische Heldenhaftigkeit, sondern gerade auch jene »Verwebung der Instrumente«, die den Uraufführungsrezensenten verwirrt hatte. Die kompositorische Komplexität der Eroica ist alles andere als Wellingtons-Sieg-haftes Heldengebumper.
Abwegig erscheint mir hingegen, dass mit dem ja offensichtlich verstorbenen grand’uomo der ausgesprochen lebendige Napoleon Buonaparte gemeint sei, den Beethoven einst verehrt hatte. (Am Rande sei erzählt, dass Napoleon den Husaren Guindey nach der Louis-Ferdinand-Ersäbelung zu befördern sich weigerte, weil er fand, ein gefangener Prinz wäre besser gewesen als ein toter.) Berühmt-berüchtigt ist die apokryphe Erzählung von Beethovens leidenschaftlichem Wutausbruch und dem Zerreißen der Widmung an Napoleon Buonaparte nach dessen Kaiserselbstkrönung im Dezember 1804. Rabiat ausradiert wurde die Widmung allerdings tatsächlich, was jedoch eher mit dem Obsoletwerden des Paris-Umzugs und der einträglichen Ersatzwidmung an Fürst Lobkowitz zusammenhängen dürfte. Was Napoleon angeht, blieb Beethovens Beziehungsstatus bis zuletzt kompliziert; vielleicht kann man sagen, dass Napoleon für Beethoven, wie Kinski für Herzog, ein »liebster Feind« war.
Neben der Frage nach der Identität des ominösen grand’uomo steht das Rätsel, wem eigentlich der berühmte Trauermarsch gelten könnte, der den zweiten Satz der Sinfonie bildet (als Louis Ferdinand ihn dreimal hörte, begriff er ihn hoffentlich nicht als vorausgenommene Illustration seiner eigenen Beerdigung). Diese beiden Fragen nach dem grand’uomo und nach dem »Protagonisten« des Trauermarsches muss man unterscheiden vom Tumult der Widmungen, in dem »taktische Fragen mit ideellen Inhalten und persönlichen Nöten verwirrend ineinander geschachtelt sind« (Nike Wagner).
Bei der fürs Hören wichtigeren Frage aber, was diese Sinfonie nun uns zu sagen hat, denen die Helden- oder Nichtheldenhaftigkeit eines musikalischen preußischen Prinzen oder eines französischen Revolutionskaisers nicht mehr recht unter den Nägeln brennt, hilft das ganze Widmungsgewese und Betrauerungs-Identifizieren nicht weiter. Anders könnte es aussehen mit der Identifizierung eines stofflichen Hintergrunds, den vor allem der Musikwissenschaftler Constantin Floros herausgearbeitet hat. Das Ohrwurm-Thema des finalen Variationensatzes der Eroica stammt nämlich aus Beethovens Ballettmusik zu Die Geschöpfe des Prometheus von 1801. Anders als die Musik sind Choreographie und Libretto eines gewissen Salvatore Viganò zwar verschollen, aber recht hübsch ist die kryptische, im Original französische Beschreibung im Tagebuch des kulturverrückten Grafen von Zinzendorf, der übrigens zur Musik von Beethoven nur lapidar bemerkt, »ne me plut guère«:
»Der ganze Parnass ist aufgeboten. Apollo unbeweglich auf dem Gipfel eines schroffen Felsens. Prometheus lässt seine Geschöpfe tanzen, das geht nicht recht vorwärts, die Musik beseelt sie, die Muse der Tragödie erweckt ihr Empfindungsvermögen, indem sie vorgibt, Prometheus getötet zu haben. Es kommt zu kriegerischen Entwicklungen. Vigano hat Schwert und Schild in der Hand. Die (Primaballerina) Casentini schießt einen Pfeil auf ihn ab. Das dauert bis gegen 10 Uhr.«
Eine konzisere, aber nicht minder lustige Zusammenfassung findet sich in der Zeitung für die elegante Welt:
»Der Inhalt davon ward in einem sehr sonderbaren Programm, vermuthlich von einem der deutschen Sprache nicht so ganz kundigen Italiener, angekündigt. Prometheus entreißt die Menschen seiner Zeit der Unwissenheit, verfeinert sie durch Wissenschaft und Kunst und erhebt sie zur Sittlichkeit.«
Auch wenn die genauere Rekonstruktion der Handlung keinen Wert an sich hat, ist sie in Bezug auf die Eroica insofern erhellend, als der aufklärerisch-ideale Vernunftfeuer-Überbringer Prometheus auf halber Strecke einmal getötet wird, dann aber wieder zum Leben erwacht und ins fröhliche Finale tanzt. Das deckt sich mit der Dramaturgie der Eroica, in der es nach dem Trauermarsch an zweiter Stelle ja um so beschwingter weitergeht. Die Sinfonie besteht für den Hörer im Grunde aus zwei Teilen: zuerst Ringen und Untergang (1. und 2. Satz), dann Freude und Tanz (3. und 4. Satz). Wobei die erlebte Musikwirklichkeit natürlich komplizierter ist. Alles durchdringt sich da immer wieder gegenseitig; schon die »Schlacht« des ersten Satzes ist ja weit mehr als das, und in ihrem untypischen ¾-Takt mehr Tanz als Marsch. Und überhaupt ist die Eroica kein Remake des Balletts, sondern im Ergebnis »autonome Klangkonstruktion« (so Jan Caeyers in seiner umfangreichen Beethoven-Biographie, dem lesbarsten unter den Referenzwerken).
Mag Beethoven selbst in seinen unverfolgbaren schöpferischen Vorgängen die mythische Figur mit dem historischen Napoleon Buonaparte verknüpft haben, so dürfen wir als Hörer den Eroica-Prometheus vielleicht mit Beethoven selbst verkuppeln: ein grand’uomo, der aus der geheimgehaltenen Katastrophe seiner Ertaubung und aus den Selbsttötungsgedanken, über die das »Heiligenstädter Testament« von 1802 spricht, zu einer Schaffenskraft fand, die in der Musikgeschichte kaum ihresgleichen hat. Das Reden von »Helden« fällt uns heutzutage aus guten Gründen schwer; beim »Titanen« denken heute wahrscheinlich mehr Menschen an Oliver Kahn als an Beethoven (und das ist gut so). Da dürfen wir also stattdessen aus der gewaltigen Kunstanstrengung des klischeegewordenen per aspera ad astra so etwas heraushören wie die überwältigende Autosuggestion eines leidenden Menschen, der sich zurückkämpft ins Leben und in die Freude. (Ähnlich mag es übrigens sein mit dem Finale der 9. Sinfonie, dessen Menschheitspathos uns heute leicht befremdet: Tönt da nicht auch die Utopie-Sehnsucht eines einsamen Menschen, der, um es gelinde zu sagen, Probleme im Umgang mit anderen hatte? Obwohl Beethoven, um nun nicht wiederum ein anderes Klischee zu beflügeln, sicher kein permanenter Griesgram war, sondern sehr gesellig sein konnte).
Ein humanistisches Opernhaus im undurchdringlichen, manchmal bedrückenden Dschungel der Wirklichkeit des gelebten Lebens.
Und so dürfen wir den »Helden« der Eroica letztlich auch mit uns selbst kurzschließen, jede und jeder einzelne von uns, die wir weiterzuleben entschlossen sind, solange es geht. Wir müssen dafür nicht alle kompositorischen Verwicklungen nachvollziehen können, wir erleben sie ja. Erleben im Kopfsatz, der mit zwei Noise-Killer-Schlägen beginnt, die Dramatik der Durchführung bis zu ihren irren 45 Sforzati und dem »falschen Horneinsatz« kurz vor der Reprise. Im ergreifenden Trauermarsch. Im Scherzo, dieser großen, hier erstmals auftretenden Beethoven-Innovation anstelle des gewohnten Menuetts, mit irritierenden Taktverwirrungen und mit Hornquinten, die von jenen gefürchtet werden, die sie spielen müssen. Und im großen Finale, das von der Passacaglia zum Freudentaumel wird. Wir sind, nach Goethes Osterspaziergang, »selber auferstanden«.
Können wir uns aber in diesem persönlichen Erleben einfach so freimachen von allerlei anderen Heldenverknüpfungen, die das offene Ideenkunstwerk Sinfonia eroica im Lauf seiner Wirkungsgeschichte durchgemacht hat? Von Schlinggewächsen schreibt Martin Geck, wenn er auf die Auswüchse der Rezeption hinweist, bis hin zu deutschnationalen und nationalsozialistischen Aneignungen dieser Musik, die doch ursprünglich Freiheit und Ideal ersehnte – was auch immer das sein mag.
Man kann diesen finsteren Aneignungen andere entgegensetzen. Der zweite Satz der Eroica wurde bei den Olympischen Spielen 1972 in München als Ausdruck der Trauer um die von palästinensischen Terroristen ermordeten israelischen Sportler gespielt. Rein musikalisch hingegen besteht unsere Herausforderung darin, wie wir die klassisch gewordene, manchmal allzu vertraut scheinende Musik wieder »neu« machen können, wieder unbekannt, gleichsam unerhört – und damit von Neuem wahrhaftig. Der Louis-Ferdinand-Boulez‘sche Weg, sie einfach mehrmals anzuhören, mag für Klassikeinsteiger gangbar sein, bringt aber mehr oder weniger erfahrene Konzertgänger nicht weiter. Schon anders sieht es aus mit den Experimenten der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis, was Besetzungsgrößen, Instrumente und Spieltechniken angeht: Werden sie nicht selbst zum musikalischen Dogma, kann ihr Erkenntniswert enorm sein.
Und auch überraschende inhaltliche oder musikalische Koppelungen können die Räucher-Aura vergessen machen. Das mag ein anderes Werk sein, das konträr ist oder sich als überraschend verwandt herausstellt. Oder es können Worte sein, Perspektiven, die dem Werk gegenübertreten – kontroverse Ideen vielleicht, die das Ideenkunstwerk befragen. Seine hehren Zuschreibungen mit unserer Gegenwart abgleichen. Auch das kann die Eroica möglicherweise von Neuem zu Musik machen, die uns mitreißt, verstört, schmerzt, entgeistert und inspiriert wie die ersten Hörer. Und in unsere Wirklichkeit hineinzuwirken vermag.
Der Text von Albrecht Selge ist ein Originalbeitrag für dieses Programm.
Wir erinnern uns: Die Sea-Watch 3 irrlichtert 2019 drei Wochen lang über das Mittelmeer, da kein europäischer Hafen die 53 Menschen aufnehmen will, die zuvor aus einem Boot im offenen Meer gerettet wurden. Erst die eigenmächtige Fahrt in den Hafen von Lampedusa brachte die Menschen an Land – und die Kapitänin Carola Rackete auf die Anklagebank.
Als Sprecherin übernimmt Jasmin Tabatabai unterschiedlichste Perspektiven zu dieser 21-tägigen Irrfahrt – eine »moderne« Odyssee auf dem Mittelmeer, die unsere Sicht auf die Grenzen Europas für immer verändert.
Nach dem Hören und Fühlen kommt das Sprechen. An das Konzert schließt sich ein interaktives Forum an, ein Saalgespräch über Europa, Beethoven und die Grenzen des Konzertformats: Auf dem Podium und mit dem Publikum diskutieren Naika Foroutan (Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität zu Berlin), Jana Puglierin (Politikwissenschaftlerin, Leiterin des Berliner Büros des Think Tanks European Council in Foreign Relations) und Max Czollek (Lyriker, Essayist, Kurator, Politikwissenschaftler). Thilo Braun führt als Moderator durch das Gespräch.
Das interaktive Forum ist gefördert von der Liz Mohn Stiftung.
»Es sieht nicht gut aus. Die Idee Europas und die Realität Europas treten immer weiter auseinander - an den Außengrenzen wie auch bei den Minderheitenpolitiken der Mitgliedsstaaten. Und das ist eine große Enttäuschung, die mit der Erzählung bricht, die meiner Generationen vermittelt wurde. Zugleich ist die Sache noch nicht entschieden und das ist die gute Nachricht. Denn das bedeutet, dass wir aktiv werden können, um dafür zu kämpfen, dass uns Europa nicht vollends verloren geht.«
»Die humanistischen Ideale Europas stehen unter Druck: Wirtschaftliche Ungleichheiten, Rechtspopulismus, restriktive Migrationspolitik und die Erosion liberaler Demokratien gefährden den - zumindest ideellen - Konsens über Menschenrechte, Solidarität und Pluralismus. Gleichzeitig scheint die wertebasierte Rechtsordnung, die als unverwirklichtes Leitmotiv seit dem zweiten Weltkrieg durch die Weltordnungslogik hindurchklang, aufgehoben. Lüge und Wahrheit, Recht und Unrecht - sie scheinen aus Perspektiven des Globalen Nordens und des Globalen Südens nicht die gleichen Sachverhalte zu beschreiben. In einer solchen Zeit müssen wir mehr denn je den produktiven Streit wagen - um das abzuklopfen, was sich als Staub über die einmal gedachten Ideale Europas gelegt hat.«
Elbphilharmonie Talk mit Riccardo Minasi
Herr Minasi, als Beethovens »Eroica« 1805 in Wien uraufgeführt wurde, da gab das Publikum einer Sinfonie von Anton Eberl, eines heute fast vergessenen Beethoven-Zeitgenossen, den Vorzug, die im selben Konzert gespielt wurde. Wie erklären Sie sich das?
Wenn ein Publikum überfordert ist, dann reagiert es entweder mit offener Ablehnung oder eben mit Gleichgültigkeit. So war das wahrscheinlich auch im Fall der »Eroica«. Es muss nämlich ein Schock für die Leute gewesen sein, was sie da zu hören bekamen! Diese ersten beiden Boxhiebe gleich zu Beginn, die zeigten die Seele Beethovens. Ohne irgendwelche Vorbereitung. Kam er damals nach Wien, entschuldigte sich höflich und bat darum, etwas sagen zu dürfen? Nein! Er knallte denen erstmal was vor den Latz! Und dann war Beethoven überschäumend vor Kreativität und Ideen. Auch das muss man erst mal aushalten, wenn man ansonsten meistens Komponisten wie Anton Eberl zu hören bekommt. Beethoven fängt ein Violinkonzert mit der Pauke an. Er gestaltet eine unglaubliche harmonische Wendung bei einem Klavierkonzert, das mit dem Klavier solo beginnt. Er komponiert eine Einleitung zum Finalsatz einer Sinfonie. Er führt eine hybride Sonatenform für einen Finalsatz ein, der zugleich ein Thema mit Variationen ist und zwei Fugati enthält. Also, bitte!
Wie wollen Sie einem modernen Publikum diese Außergewöhnlichkeit eines Komponisten und eines solchen Stücks nahebringen?
Es geht darum, wie man den Schock, den die Uraufführung ausgelöst hat, heute herstellen kann. Wie kann man jeden unmissverständlich spüren lassen, was für ein sensationelles musikalisches Ereignis, was für ein revolutionäres Konzept das war? Davon ausgehend müssen wir überprüfen, wie wir damit heute in Verbindung stehen. Natürlich müssen wir uns auch den klanglichen Umständen von heute anpassen. Die Bedingungen damals waren vollkommen andere! Nehmen Sie als Beispiel die Matthäus-Passion: Klar, man kann die Besetzung von Orchester und Chor reduzieren, wenn man mit Blick auf die historische Aufführungspraxis herangeht. Aber wir werden eben trotzdem nie wieder denselben Effekt erzielen können, den dieses Werk damals auf das Publikum ausgeübt hat. Das hatte vorher drei Monate lang keine Musik gehört, und dann kam so etwas in der Kirche, zum ersten Mal. Solche Umstände lassen sich nicht wieder herstellen. Bei der »Eroica« ist das ganz genauso.
Dazu die umfassende Hörerfahrung, die die Leute heutzutage mitbringen. Das macht ja den Versuch, dieses Sensationelle von damals zu rekonstruieren, auch nicht einfacher...
Aber wir müssen es trotzdem versuchen! Mit dem Ensemble Resonanz haben wir sehr vieles von dem ausprobiert, was aus der musikwissenschaftlichen Forschung kam. Und jetzt, nachdem wir miteinander gelernt haben, wie man diese Werkzeuge anwendet, können wir nicht mehr zurück zu der herkömmlichen Art und Weise, Beethoven zu spielen. Die klänge jetzt so viel billiger. Das waren so augenöffnende Elemente meiner Tätigkeit hier.
Die »Eroica« ist eines der populärsten Werke Beethovens. Viele Menschen, die Klassik hören, haben einen sehr persönlichen Bezug zu diesem Stück. Wie ist das bei Ihnen? Worin liegt die Botschaft dieser Sinfonie für Sie?
Roger Norrington hat den 1. Satz der »Eroica« ein Ungeheuer genannt. Das war natürlich ein Witz, denn jeder liebt diesen Satz. Aber er ist tatsächlich ein Ungeheuer. Jeder Komponist, dem es gelingt, drei Themengruppen mit ihren jeweiligen Entwicklungen zu managen und dazu noch alles Mögliche andere, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren, und der zudem damit noch das Publikum bei der Stange hält, muss wirklich extrem fähig sein. Die »Eroica« ist für mich ein Referenzpunkt für all jene, die heutzutage neue Musik schaffen.
Über seinen Weg ans Dirigentenpult, über Gemüsebeete und einen Fußball-Spieler, den man kennen sollte: Ein Gespräch mit Riccardi Minasi (in englischer Sprache). Das Interview führte Tom R. Schulz im Sommer 2024.
Jasmin Tabatabai ist eine deutsche Schauspielerin und Jazzsängerin mit iranischen Wurzeln. Bekannt geworden ist sie durch ihre Hauptrolle Luna in Katja von Garniers Musikfilm Bandits (1997), für den sie auch einen großen Teil des Soundtracks komponierte. Zu ihren wichtigen Arbeiten zählen Gripsholm, Vier Minuten, Fremde Haut sowie zahlreiche Fernsehfilme. Sie war die Synchronstimme von Marion Cotillard in La Vie en Rose und von Chiara Mastroianni in Persepolis und nahm zahlreiche Hörbücher auf wie z.B. Lolita lesen in Teheran. 2012 erhielt sie als Beste Sängerin National den Jazz Echo. Im Mai 2020 erschien ihr drittes Jazz-Album Jagd auf Rehe. Momentan steht sie für eine neue Staffel von Letzte Spur Berlin als Mina Amiri, der ersten iranischstämmigen Kommissarin im deutschen Fernsehen, vor der Kamera.
Musikhistorische Quellenforschung, energiegeladene Orchesterleitung und eine einzigartige musikalische Vision zeichnen den in Rom geborenen Geiger und Dirigenten Riccardo Minasi aus. Er war Mitbegründer und Leiter des Ensemble »Pomo d’Oro« von 2012 bis 2015, seit 2017 ist er Chefdirigent des Mozarteumorchester von Salzburg und seit 2022 Künstlerischer Leiter des Orchesters »La Scintilla« am Opernhaus Zürich.
Mit dem Ensemble Resonanz verbindet ihn seit 2014 eine fruchtbare musikalische Zusammenarbeit, die sich ab der Saison 2022/23 intensiviert und mit der Ernennung als »Principal Guest Conductor« eine unbefristete Perspektive erhält. Von der besonderen Verbindung zwischen Dirigent und Ensemble zeugen zahlreiche gemeinsame Konzerte und preisgekrönte CD-Einspielungen mit Werken von C.P.E. Bach (mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras), Haydn, Mozart, Pergolesi und Beethoven – Ergebnisse einer auf mehrere Jahre ausgelegten Zusammenarbeit mit dem Label Harmonia Mundi, in der ausgewähltes Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt steht. Gemeinsam haben sie ein spezifisches Klangbild für dieses Repertoire entwickelt, dem gleichermaßen historisch begründete wie zeitgenössische Interpretationen auf modernen Instrumenten zu Grunde liegen.
Violine
Barbara Bultmann**, Gregor Dierck*, Skaistė Dikšaitytė, Tom Glöckner, David-Maria Gramse, Corinna Guthmann, Juditha Haeberlin, Christine Krapp, Benjamin Spillner, Swantje Tessmann, Hyun-Jung Kim, Barbara Köbele, Katharina Licht
Viola
Neasa Ní Brain*, David Schlage, Tim-Erik Winzer, Christian Marshall, Catharina Rauch
Violoncello
Saskia Ogilvie*, Saerom Park, Moritz Benjamin Kolb, Lea Tessmann
Kontrabass
Sophie Lücke*, Anne Hofmann, Benedict Ziervogel
Flöte
Christina Fassbender, Marcos Villalobos Ortiz
Oboe
Risa Soejima, Gonzalo Mejía
Klarinette
Marco Thomas, Regine Müller
Fagott
Volker Tessmann, Thomas Höniger
Horn
Tomás Guerra Figueiredo, Florian Cason, Víctor Cosío Lanza
Trompete
Nicolas Isabelle, Markus Schwind
Pauken
Bao-Tin Van Cong
** Konzertmeisterin
* Stimmführer:in
Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstlerischen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. Die Programmideen der Musiker:innen setzen alte und neue Musik in lebendige Zusammenhänge und sorgen für Resonanz zwischen den Werken, dem Publikum und Geschichten, die rund um die Programme entstehen.
Das 21-köpfige Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner:innen an Bord. Wertvolle kreative Impulse erhalten die Musiker:innen durch die langjährige Zusammenarbeit mit dem Geiger und Dirgenten Riccardo Minasi, der das Ensemble als »Principal Guest Conductor & Partner in Crime« begleitet. Enge künstlerische Partnerschaften bestehen unter anderem mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, der Bratschistin Tabea Zimmermann, dem Cellisten Jean-Guihen Queyras und der Bühnenbildnerin Annette Kurz. Eine weitere treibende Kraft ist die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und die beständige Entwicklung neuen Repertoires.
In Hamburg bespielt das Ensemble Resonanz mit der Elbphilharmonie und dem resonanzraum St. Pauli zwei besondere und unterschiedliche Spielorte. Die Residenz an der Elbphilharmonie beinhaltet die Konzertreihe resonanzen, die in der 23. Saison für Furore sorgt. Aber auch mit Kinderkonzerten sowie im Rahmen diverser Festivals gestaltet das Ensemble die Programmatik des Konzerthauses an der Elbe entscheidend mit und setzt Akzente für eine lebendige Präsentation klassischer und zeitgenössischer Musik.
In Hamburgs pulsierendem Stadtteil St. Pauli haben die Musiker:innen mit dem »resonanzraum« 2014 einen Proben-, Konzert- und Clubraum geschaffen, an dem klassische Musik neu gedacht und erlebbar gemacht wird. Hier setzen sie mit ihrer Konzertreihe »urban string« und zahlreichen künstlerischen Kooperationen neue Maßstäbe, um die Menschen in der Stadt mit klassischer Musik zu verbinden und ein vielfältiges Publikum zu erreichen. Bei »urban string« trifft Kammermusik auf elektronische Kunst, gestaltet und moderiert werden die Programme von den Musiker:innen selbst. Offene Proben, Hörstunden und Philosophie-Gespräche im »bunkersalon« öffnen neue Erfahrungsräume rund um die Konzertprogramme. Der resonanzraum wurde 2017 für sein innovatives Programm zum Hamburger Musikclub des Jahres gewählt, erhielt 2023 den Applaus Award und zudem verschiedene Architektur-Preise wie den AIT-Award oder den Publikumspreis des BDA. Die Reihe urban string wurde 2016 mit dem Innovation Award der Classical Next ausgezeichnet.
Ausgehend von Hamburg gastieren die Musiker:innen auf diversen Festivals und an den führenden Konzerthäusern weltweit und lassen von Wien bis Tokio ein begeistertes Publikum zurück.