Hans Zenders Vision des schöpferischen Interpreten
»Es gibt keine originalgetreue Interpretation.« Wie viele Stunden des Partitur- und Quellenstudiums, wie vieler Proben und Aufführungen es bedurfte, bis im Komponisten, Dirigenten und Musikdenker Hans Zender diese Erkenntnis gereift ist, weiß ich nicht. Doch klingen die Worte nach wie Donnerhall. Und wie mögen sie erst gewirkt haben in einer Generation, die auf der einen Seite die Sensationen der historisch informierten Aufführungspraxis erlebte, mithin die Versuche, Musik aus den Aufführungsbedingungen ihrer Zeit heraus neu zu verstehen, mit »originalgetreuen« Tempi, »richtiger« Artikulation und Phrasierung, mit Rekonstruktionen historischer Instrumente? Eine Generation, die, von der anderen Seite der Geschichte mit Tonbandkompositionen »objektive Werke« ohne fehleranfällige Interpreten schuf oder Kompositionen, die reihenmäßig so durchstrukturiert waren, dass sie dem Interpreten keinen Freiraum mehr ließen, sondern eine gleichsam entsubjektivierte »Exekution« des Notentextes verlangten. Hans Zender hat als Komponist und Dirigent von beiden Seiten an diesen Entwicklungen mitgewirkt und hat seine Einsichten auch immer wieder mit philosophischer Präzision und sprachlicher Prägnanz festgehalten. Aus seiner Erkenntnis, dass originalgetreue Interpretation nicht möglich sei, hat er nicht etwa die Unmöglichkeit von Interpretation abgeleitet, sondern gerade ihre Notwendigkeit eingefordert: »So wichtig es ist, die Texte genauestens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich rekonstruierend zum Leben zu erwecken. [...] Es bedarf des schöpferischen Einsatzes des Interpretierenden, seines Temperamentes, seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhetik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich lebendige und erregende Aufführung zustande zu bringen. Dann geht etwas vom Wesen des Interpreten in das aufgeführte Werk über: Er wird zum Mitautor.« Ein echter Interpret ist ein schöpferischer Interpret.