Text: Patrick Hahn
Europa stand an der Schwelle zur Apokalypse, als Béla Bartók eine Anfrage des Basler Mäzens und Dirigenten Paul Sacher erreichte. Sacher hatte 1926 ein eigenes Kammerorchester gegründet, das in der Folge zahlreiche Auftragswerke uraufführte. Zum zehnjährigen Jubiläum des Ensembles wollte er nun, 1936, ein Stück bei Bartók bestellen. Nur zu schwer dürfe es nicht werden, da in seinem Orchester auch Amateure mitspielten. Was den Schwierigkeitsgrad anging, konnte Bartók keine Versprechungen machen, aber er nahm den Auftrag für den befreundeten Musikenthusiasten gerne an. Beide ahnten nicht, dass auf diese Weise eines der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts entstehen sollte.
1936 war nicht nur das Jahr der ersten unverhohlenen Kriegsgebärden der Nationalsozialisten in Deutschland und des spanischen Bürgerkriegs, es war auch das Jahr, in dem Béla Bartók seine letzte große musikethnologische Reise durchführte. Als einer der Ersten hatte Bartók Anfang des Jahrhunderts begonnen, systematisch die »Bauernmusik« seiner ungarischen Heimat zu erforschen; 1936 führte ihn seine Forscherneugier sogar bis in die Türkei, wo er bei den Tecirli-Nomaden Ähnlichkeiten zwischen türkischer und ungarischer Musik untersuchte. Seine Neugier, sein Wunsch, diese Musik an ihrer Quelle zu studieren, war zwar aus einem anti-habsburgischen Nationalismus entsprungen, hatte jedoch nichts mit jener nationalistischen Blut-und-Boden-Ideologie zu tun, wie sie europaweit um sich griff. Bartók interessierte gerade die Vielfalt der Musik – und er staunte ob der rhythmischen Komplexität, des harmonischen Einfallsreichtums und des Schatzes an Melodien, die er entdeckte.
Auch andere Komponisten hatten die Folklore ihrer Heimat als möglichen Fortschrittsmotor für die musikalische Moderne erkannt. Doch hat wohl kein anderer Komponist diese so konsequent in seine universale Musiksprache aufgenommen wie Béla Bartók. Aufregend ist dabei nicht die teilweise naive Idealisierung jener unverdorbenen, authentischen Musikwelt, die man bei Bartók ganz gelegentlich auch findet, sondern wie es ihm gelungen ist, diese mit seiner »Gelehrsamkeit« zu verbinden.
Bereits die Besetzung seines Basler Jubiläumswerks sticht aus der Musikgeschichte heraus: Streicher, Harfe, Klavier, Schlagzeug und Celesta. So konnte er einerseits sämtliche Neuerungen im Streicherspiel einfließen lassen, die er in seinen Streichquartetten entwickelt hatte: Glissandi, Arpeggio-Effekte und die nach ihm benannten Bartók-Pizzicati, bei denen die Saite so hoch gezogen wird, dass sie beim Loslassen auf das Griffbrett knallt. Andererseits konnte er das Klanggewand des Stückes durch die Farben des Schlagzeugs und die Wirklichkeitsverzauberungsmaschine »Celesta« anreichern.
Wie es seinem Wesen entsprach, verriet Bartók in eigenen analytischen Hinweisen wenig über seine Intentionen, sondern stellte nüchtern die formalen Errungenschaften heraus. Der Kopfsatz etwa hat als »Fächerfuge« Eingang in die Musiktheorie-Lehrbücher gefunden: Das chromatische Thema geht vom Ton »a« aus und beginnt bei jedem neuen Einsatz eine Quinte höher beziehungsweise tiefer, wobei sowohl nach oben als auch nach unten der gesamte Quintenzirkel durchschritten wird – bis zum Treffpunkt »es«, der mit seinem dreifachen Forte heraussticht. Von dort geht es den Quintenzirkel weg mit dem umgekehrten Thema wieder zurück; das simultane Erklingen von Original und Umkehrung wird mit Silberklängen der Celesta umrankt. Dieses Fugengebilde ist aber, bei aller gedanklichen Konsequenz, unschematisch und unscholastisch und enthält noch so manch anderes Werkstattgeheimnis: etwa die Proportionierung nach dem Goldenen Schnitt bzw. der Fibonacci-Folge, bei der sich die jeweils folgende Zahl durch Addition ihrer beiden vorherigen Zahlen ergibt.
Das Fugenthema verbindet die vier Sätze miteinander. Im zweiten taucht es als besonders bemerkenswerte Variante auf: als Kombination von harten Klavierschlägen und Bartók-Pizzicati, grundiert von ostinaten Klangfeldern. Dieser rassige Satz führt zwei Streichergruppen antiphonisch gegeneinander, zwischen denen Klavier, Schlagzeug, Harfe, Celesta wie das Concertino im barocken Concerto grosso agieren. »Bartóks geheimnisvollstes Nocturne«, nannte der Musikwissenschaftler Rainer Peters das Adagio an dritter Stelle: »Es lässt eine Klanglandschaft aus instrumentalen Rezitativen, ›außerirdischer‹ Melodik und impressionistischen Klangschauern entstehen, die wie nächtliche Naturlaute und eine akustische Verkörperung von Bartóks grenzenloser, pantheistischer, antizivilisatorischer Naturliebe anmuten. Der verwegene Folklorismus des Finalsatzes erhält seine ›höheren Weihen‹ durch den Rückgriff auf das Fugenthema des Kopfsatzes, das – hymnisch verbreitert – an sinfonische Traditionen und die Utopie einer besseren Welt anknüpft.« Dass die Welt besser geworden ist, wenn man den Konzertsaal wieder verlässt, glaubt zwar niemand. Aber die Erlebnisse darin machen uns vielleicht ein wenig mutiger dafür, den Schritt in diese unbekannte Richtung zu gehen.