Luigi Nono: Varianti – Musik für Violine solo, Streicher und Holzbläser
Wie im Paradiese fühlte sich auch der Komponist Helmut Lachenmann nach einem Besuch der Donaueschinger Musiktage am 20. Oktober 1957. Die Begegnung mit Luigi Nonos Varianti, angekündigt als »Musik für Violine solo, Streichinstrumente und Holzbläser« kam einem Erweckungserlebnis gleich. In einem Brief schrieb Lachenmann an Nono: »Seit der Uraufführung der Varianti in Donaueschingen bin ich ganz verwirrt. […] Ich bin so begeistert, dass ich wirklich nicht mehr weiß, was ich tun soll. Es war das erste Mal für mich, dass ich jede kritische dialektische Spekulation fahren lassen habe; zum ersten Mal bei einem neuen Werk habe ich ganz vergessen, dass ich auch ein Musiker bin und komponieren will; ich war wie im Traum, aber dieser Traum war ja ganz wirklich, es war eine Wirklichkeit von einer solchen Reinheit und Lauterkeit, wie sie es nirgends sonst gibt in der gesamten heutigen Musik. Begriffe wie Schönheit oder Keuschheit sind viel zu plump für das, was man bei solcher Musik erlebt.« Im selben Konzert erklangen neben Nonos Varianti Igor Strawinskys Ballett Agon sowie Hans Werner Henzes Nachtstücke und Arien. Welch ein faszinierendes Aufeinandertreffen unterschiedlichster, in der aufgeheizten Stimmung der Nachkriegsavantgarde geradezu unversöhnlicher Positionen. Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono sollen den Saal geschlossen verlassen haben, als Henzes neo-romantische Musik erklang. Und während Strawinskys Neoklassizismus bereits über jede Diskussion erhaben war, verstörte Nonos Musik zahlreiche professionelle Zuhörer, wie die Zeitungsrezensionen unterstreichen. »Das Ganze lief auf eine Operation der Musik hinaus, bei der die Patientin starb«, ätzte Otto Erich Schilling in der Stuttgarter Zeitung. Einzig Willi Reich lobte in der Schweizer Musikzeitung eine »echte kompositorische Pionierleistung« und der Münchner Rezensent Karlheinz Ruppel pries Nono als »musikalischer Savonarola unserer Zeit, […] der das Klangmaterial von jeglichem ›Reiz‹ unerbittlich reinigt.« Reinigung von allem geschichtlichen Ballast, wie es hier in der Anspielung auf Savonarolas Fegefeuer der Eitelkeiten anklingt, war in der Tat ein wichtiges Movens der Nachkriegsavantgarde – und auch von Nono persönlich. »Die Kompositionstechnik Nonos ging von Anfang an von der historischen Notwendigkeit aus, sich nicht nur von jeglicher thematischen Verarbeitung, sondern vom thematischen Denken überhaupt und vom tonalen Denken, das sich nicht davon trennen läßt, endgültig zu lösen«, schreibt Helmut Lachenmann in einem »Rückblick auf die serielle Musik«. Schlicht erläutert weiten die sogenannten seriellen Komponisten Schönbergs Kompositionsmethode mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen auch auf andere musikalische Parameter aus wie die Dauern oder die Dynamik. »Kronzeuge« für diese Vorgehensweise war ihnen der Schönberg-Schüler Anton Webern, in dessen Werken sich solche Tendenzen im Keim finden. Die Varianti von Nono nehmen in der Geschichte der seriellen Musik eine Schlüsselstellung ein: Nono bezieht in diesem Werk neben Tonhöhen, Dauern und Dynamik erstmals auch Spieltechniken, Artikulationsweisen, Dichte, Tempo, Taktgruppierung, Oktavlage und das Verhältnis der Solovioline zu den ebenfalls solistisch behandelten Orchesterinstrumenten in die serielle Organisation mit ein. »In die Varianti-Partitur schaute ich erstmal hilflos, wie die Katze ins Bilderbuch«, bekannte Helmut Lachenmann später.
Welche Gedanken dem Uraufführungsinterpreten Rudolf Kolisch beim ersten Blick durch den Kopf schossen, ist unbekannt, aus einem Brief an Nono ist jedoch überliefert, wie er sich dieser Herausforderung angenähert hat: Er fertigte handschriftlich eine Tabelle an, in der er sich sämtliche geforderten Spieltechniken notierte. Er zählte 36 verschiedene Spielkategorien (ordinario, vibrato, non vibrato, flautando, flageolet, tasto, ponticello, col legno etc), die, multipliziert mit den acht Dynamikgraden 240 verschiedene Elemente ergeben. Kolisch versah seinen Brief auch mit dem Hinweis, welche dieser Spielweisen er für fraglich oder gar unmöglich hielt. Nono beeilte sich, Kolisch auf seinen Brief zu antworten, indem er ihm weitere Details über die Konstruktion verriet. Hinsichtlich der Spielweisen aber antwortetet er: »Nach Deinem Tabelle: wo Du unmöglich geschrieben hast, werde ich überlegen wie machen, aber wo Du ›sehr fraglich - außer fraglich* ich lasse wie ist. / Was glaubst Du???????????????????????????? / Weil wenn Du ›unmöglich‹ sagst, ist unmöglich; wo außer fraglich, ist immer möglich. / RICHTIGGGGGGGGGGGGGG?«
Bis heute sind die Herausforderungen dieses Werks so groß – und auch so unangenehm –, dass die Aufführungsgeschichte der Varianti verblüffend kurz ist. Nach der Uraufführung wurden die Varianti zwar noch in München bei Musica viva nachgespielt. Seit 2004 weist der Schott-Verlag auf seiner Homepage gerade einmal neun Aufführungen von sechs Interpretenkonstellationen auf – die heutige eingeschlossen. Helmut Lachenmann schrieb gleich die ganze Partitur ab, um zu begreifen, wie dieser neue, karge, kahle und doch unverwechselbare, gereinigte Ausdruck konstruiert war. Und er kam zum Schluss, dass der Clou von Nonos serieller Kompositionsweise darin liegt, dass er ihn nicht – wie beispielsweise Pierre Boulez in seinen Structures für zwei Klaviere – gnadenlos durchzieht, sondern seine seriell gewonnenen Ergebnisse modifiziert, in dem er permanent Varianten bildet. »Das serielle Prinzip, wie es hier herrscht, bietet nichts weiter als die Gewähr, dass das Material völlig des Eigenausdrucks enthoben und eingeschmolzen ist zu einheitlichen Bauwerten (gleichsam Molekülen), ganz gleich, ob es sich um Dauern, Lautstärken oder Geschwindigkeiten usw. handelt«, folgert Lachenmann in einem Brief an Nono. »Das bedeutet, der Begriff der ›Variante‹ ist das eigentliche kompositorische Element, der nur möglich ist dadurch, dass die seriellen Ordnungen ganz abstrakten Bezug auf die davon betroffenen musikalischen Einheiten haben.« Nono bestätigt Lachenmanns Befund und antwortet ihm gleichnishaft. »Es gibt eine Mentalitaet (Denken-Kompositionstechnik) die auf besondere und praezise Basis steht, aber die immer in der Moment in Leben kommt: also die sich stets im Augenblick selbst entscheidet, je nach Realität des Augenblick selbst entscheidet, je nach Realität des Augenblicks: das heisst, man muss erkennen und sehen, wo, wann, wie und was passiert, um genau zu agieren-deuten-einschreiten, so wie es jedem möglich ist, niemals: starre Dogmen mit der Konsequenz: immer und in jedem Fall von Außen oder von Oben aufzwingen wollen. […] das genau wie in Leben.« Dass das Leben, der Mensch stets der Bezugspunkt künstlerischen Schaffens bleiben müsse: dafür ist in diesen wilden Jahren der Neuen Musik wohl niemand so sehr eingetreten wie Luigi Nono. Und zwar da am meisten, wo er sich auf das erste Hinhören am weitesten von ihm entfernt.
Patrick Hahn
aus: Programmheft zu resonanzen »mit tusch«