Maria Gnann über Pergolesis »Stabat mater«
Normalerweise sind es die Menschen, die in Gebeten und Gedanken Nachrichten ins Ungewisse schicken. Christen zum Beispiel richten ihre Danksagungen und Bitten an Jesus, Gott oder – in manchen Konfessionen – an Heilige.
Den wahrscheinlich schönsten, bittersüßen Hilferuf entsandte Giovanni Battista Pergolesi im 18. Jahrhundert an die Gottesmutter Maria. In seinem Werk Stabat Mater vertonte der Komponist das gleichnamige mittelalterliche Gedicht, in dem das lyrische Ich mitfühlend Maria am Kreuz ihres Sohnes betrachtet und sie schließlich selbst um Gnade bittet. Der tief gläubige Pergolesi hörte die Sequenzdichtung ab dem 18. Lebensjahr in der Kirche, seit 1727 war der Text Teil der katholischen Liturgie. Heute kommt er nur noch einmal im Jahr in der Messe vor, am 15. September, dem Termin zum »Gedächtnis der Schmerzen Mariä«.
Ganz zarte, intime Musik hat Pergolesi zu dem zehnstrophigen Gedicht erfunden, sieben Duette und fünf Arien sind es geworden, die gerade durch ihre Schlichtheit unmittelbar berühren. Barocken Pomp legt der Komponist ab wie einen schweren Mantel, eher weiß als golden schimmert die Reinheit Mariens in den beiden hohen Singstimmen. Zwar schrieb Pergolesi in Stabat Mater teilweise noch sorgsam kontrapunktisch, aber insgesamt weniger streng als in seinen vorangegangenen geistlichen Werken. Er achtete vielmehr auf feine Melodielinien und Kantabilität als auf die Entwicklung der Motive zugunsten eines Baus, der symmetrische Melodiebausteinchen nebeneinanderpacken sollte. Pergolesi markierte damit den Übergang vom alten, barocken zum neuen, galanten Stil.
Dessen Anwendung war in der Kirchenmusik damals allerdings ungewohnt. Manche Zeitgenossen rümpften die Nase, sie empfanden Pergolesis Stabat Mater als zu leichtgewichtig, süßlich und zu theatralisch. Die Mehrheit aber bewunderte die neue Eleganz, die unmittelbar ergreifende Stimmung des Werks. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau pries den Eröffnungssatz gar als »das perfekteste und berührendste Duett«, das je geschrieben worden sei.
Und er ist wirklich von betörender Schönheit, dieser Anfang mit den schmerzlich dissonanten Sekundreibungen in den hohen Streichern und Singstimmen, die über dem bedächtig voranschreitendem basso continuo den Faden der Erzählung aufnehmen: »Christi Mutter stand mit Schmerzen bei dem Kreuz und weint’ von Herzen, als ihr lieber Sohn da hing«, lautet eine deutsche Übersetzung. Fast zärtlich gestaltet Pergolesi das Wort »lacrimosa« (lateinisch für tränenreich), das er mit Trillern und perlenden Läufen ausschmückt, wodurch er das Weinen Marias und damit ihre Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Trotz der gegebenen Dramatik behält Pergolesi den langsam getragenen Erzählcharakter bei, malt durch die Musik ein Bild von Marias leisem, aber dadurch nicht weniger innigem Schmerz. Mit Seufzermotiven und chromatischen Wendungen ummantelt er den Text, die Melodie schmiegt sich eng an den Rhythmus der Verse und die Form der jeweiligen Strophe. Nur die Beschreibungen von Marias Seelenzuständen regen stets ein bisschen mehr Bewegung in den Noten an.
Entschlossener und etwas lauter wirkt Pergolesis Musik erst, als sich das lyrische Ich direkt an Maria wendet, ab dem siebten Satz, der 9. Strophe des Gedichts. Durch imitierende Passagen im darauffolgenden Duett, dem achten Satz, verstärkt Pergolesi den Eifer des lyrischen Ichs, seinen Wunsch zur empathischen Anteilnahme. Schließlich vereinen sich die Stimmen tröstend und versöhnlich, nach dem Motto: »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Die dezente Opernhaftigkeit, die manchen Zeitgenossen missfiel, erklingt vielleicht zu Beginn des zehnten Satzes, in dem das lyrische Ich den Wunsch nach Selbstkasteiung formuliert. Die Streicher setzen in tiefer Lage ein, Dramatik schafft auch ihr punktierter, schroffer Rhythmus, der nur für kurze Seufzermotive innehält. In ellenlangen Passagen der Singstimme zieht Pergolesi dann die Textsilben schmerzhaft auseinander – einen beinahe unendlichen Atem brauchen die Sänger insgesamt in diesem Werk.
Ein schneller Regungswechsel folgt in Nr. 11. Durch ein flotteres Tempo, herzhafte Sprünge und schnelle Triller lässt Pergolesi das lyrische Ich hoffnungsfroh und »liebestrunken« Maria um Gnade und Beistand für den eigenen Todestag bitten. Der Wunsch nach mütterlichem Schutz wird auch im letzten Duett deutlich, das im Text von Todesahnung und Vergänglichkeit kündet, von der düstren Höhle des Grabes und der Bitte nach Aufnahme ins Paradies. Ruhige, kreisförmige Bewegungen der Streicher stehen wie sinnbildlich für den natürlichen Kreislauf des Lebens, Sopran und Alt verschränken sich im ruhigen, langsamen Gebet. Ihr abschließendes »Amen« behandelt Pergolesi wiederum als freies Fugato, die schnellen Imitationen gehen wunderbar im bestätigenden Charakter des Wortes auf. Ja, so sei es.
Der Zauber dieses Werks beruht gerade auf den sparsamen Klangmitteln, die die Bescheidenheit und stille Trauer Marias auf besondere Weise in Szene setzen. Pergolesi komponierte für nur zwei Singstimmen und ein Streicherensemble mit basso continuo, das allerdings im 19. Jahrhundert gerne erweitert wurde mit Flöten oder Oboen, Trompeten, Posaunen und Pauken. Heute wirkt gerade die intime Besetzung so intensiv auf den Hörer.
Eine gewisse Schutzlosigkeit verkörpern auch die beiden hohen Singstimmen. Zu Pergolesis Zeit wurden sie von Männern gesungen, denn Frauen hatten in der Kirche zu schweigen. Für ein Werk wie Stabat Mater mussten die Mönche männliche Soprane und Alte »herstellen« – auch wenn Kastration offiziell geleugnet wurde. Wann und für wen genau das Stabat mater entstand, ist allerdings ungeklärt. Hartnäckig hält sich die Behauptung, dass es sich um Pergolesis letztes komponiertes Werk handle, geschrieben habe er es fiebrig und schwach, kurz vor seinem Tod als 26-Jähriger für eine Bruderschaft neapolitanischer Edelleute, die seit 20 Jahren am Karfreitag gemeinsam Alessandro Scarlattis Stabat mater hörten und nun eine Neuvertonung forderten. Ob das stimmt, ist ungewiss. Nach dem frühen Tod Pergolesis rankten sich unzählige Legenden um das Werk, das seinen Namen durch ganz Europa trug.
Die bewegende Sinnlichkeit und Reinheit von Stabat Mater lässt sich auch heute noch leicht mit einer Ahnung von etwas Überirdischem assoziieren. Das Werk spiegelt eindrücklich die Sehnsucht nach Beistand und Trost an der Schwelle zwischen Leben und Tod, den Wunsch nach mütterlichem Schutz und Empathie in den Momenten des endgültigen Kontrollverlusts.
Der Text ist ein Originalbeitrag für das Programmheft der resonanzen sechs »atem« vom 05. und 06. Juni 2019.