Artikel von Holger Noltze
Jetzt schauen wir in den Abgrund. Der harte Lockdown trifft erneut die mit Wucht, die sich mit einiger Anpassungsfähigkeit auf die wechselnden Hygienevorgaben und -standards eingelassen haben – die Veranstalter und Ermöglicher öffentlicher Musik. Er trifft vor allem auch diejenigen, die die Musik machen, unter teils abenteuerlichen Umständen, und die womöglich nicht in die bestehenden Rettungsschirm-Raster passen: die unzähligen Einzelkämpfer der Kunst, bei denen es längst um Sein oder Nichtsein geht. Daniel Barenboim sieht gar das Ende des musikalischen Betriebs an sich kommen.
So weit, so finster. Der Blick auf die Corona-Lage spitzt freilich auch die Frage zu, was die digitale Revolution mit dem macht, was man ästhetische Erfahrung nennt – zum Beispiel also mit Musik. Geben sich die Verfechter analoger Wahrheiten in der Not geschlagen? Entdecken die Revolutionäre ganz neue Betätigungsfelder? Kaum hatte ich mich in der World Wide Wunderkammer mit Fragen des Streamings und der permanenten Verfügbarkeit von hochkulturellen Inhalten beschäftigt, kam Lockdown No. 1. Ich konnte dem Buch nur eine Fußnote vorn und einen aktualisierten Schluss hinzufügen – nebst ein paar Fragezeichen: Was macht die pandemische Weltkrise mit meinem Thema? Was verändert sich, wenn das Digitale in Bezug auf die öffentlich gespielte Musik nicht länger ein Bonus oder "nice to have" ist, sondern die einzige Chance, überhaupt Klänge zu erleben (nämlich in vereinzelter Gleichzeitigkeit)? Die digitale Bühne scheint bis auf Weiteres nicht mehr nur die Verlängerung eines erzanalogen Geschehens zu sein, sondern dessen eigentlicher Ort.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist zum einen die Beobachtung, dass gerade in der Sphäre der sogenannten Hochkultur das Internet bislang noch nicht sehr gut verstanden wird. Zum anderen würde ich gerne den Vorschlag machen, das Netz nicht als Feind, als No-go-Area oder als notwendiges Übel zu betrachten, sondern vielmehr zu schauen, worin seine Chancen liegen. Die digitale Welt ist längst keine Parallelwelt mehr, sie hat unsere analogen Verhältnisse lange vor Corona durchdrungen.
Ich plädiere dafür, die Möglichkeiten für Musik im Digitalen so beherzt wie möglich zu erkunden – jetzt erst recht! Nie war die Gelegenheit dafür so günstig. Meine These lautet: Das Internet in seiner unaufgeräumten Umfassendheit, im Nebeneinander des Schrecklichen und des Schönen, hat einiges gemeinsam mit der barocken Wunderkammer. Waren die Kunst- und Kuriositätenkabinette des 15. bis 18. Jahrhunderts nicht nur unübersichtlich, sondern auch begrenzt (von den räumlichen Kapazitäten her), so schafft das Internet durch die totale Gleichzeitigkeit von annähernd allem eher eine Überforderung durch Entgrenzung. Das kann die Suche nach dem Guten, Schönen, Inspirierenden im Netz durchaus behindern.
Mein Vorschlag, dieser Barriere zu begegnen, besteht aus drei Teilen. Erstens aus der Vision einer sach- wie medienverständigen Kuratierung als freundlichem companionship zum "guten" Inhalt. Darunter verstehe ich kluge Hinweise, was die Aufmerksamkeit der Nutzer tatsächlich lohnen könnte, eine knappe, aber nützliche Hinführung sowie Links zu weiterführenden Inhalten. Zweitens glaube ich an die Organisations- und Distributionsform der unabhängigen Plattform, die Inhalte aus diversen Quellen zusammenbringt und dies unter transparent gemachten Qualitätskriterien tut. Eine Plattform in solchem Verständnis läge zwischen YouTube und dem zugespitzten Subjektivismus eines Solo-Blogs. Wenn ich an einem solchen Ort Empfehlungen finde, die mir aufgrund meines Vorwissens, meiner Interessen und Erwartungen begründet erscheinen, kann sich so etwas wie Vertrauen entwickeln. Gute, am Anspruch des jeweiligen Kunstwerks orientierte Kuratierung wird die wesentliche Aufgabe eines Musikjournalismus der postheroischen Epoche sein. Und was gut ist, wird mehr denn je daran gemessen werden, ob und inwieweit die Hinführung zur Kunst gelingt. Was genau ist das Versprechen einer Haydn-Symphonie oder von Boulez’ Notations?
Und drittens geht es um die Entwicklung eines angemessenen Umgangs mit Partizipation und Feedback. Angemessen meint hier: die Vielstimmigkeit der Rezipienten als Teil der Kommunikation durch Kunst zuzulassen, ohne gleich jeden Unfug abzubilden. Mache ich aus der anhaltenden Corona-Not also eine Tugend und behaupte, ein gestreamtes "Geisterkonzert" sei besser als eines mit Publikum im Saal? Nein. Und auch das Gegenteil ist nicht richtig, all die Unkenrufe, das aktuelle Dauerstreaming sei der Totengräber der Konzertkultur. Es ist und bleibt eine unerhörte zivilisatorische Errungenschaft, wenn hundert hoch qualifizierte Künstlerinnen und Künstler auf einer Bühne zusammenkommen und aus tausend Menschen im Saal eine einzigartige Gemeinschaft von Hörenden machen. Und doch gibt es Unterschiede, wie wir damit umgehen.
Das Digitale ist nicht die Prothese des Analogen, ist kein Ersatz, sondern ein Ding eigener Art. Finden wir also den Weg zwischen idiotischer Digital-Aversion und ebenso idiotischer Digital-Euphorie: Was kann die Wunderkammer des Internets leisten, wenn der Maßstab zuallererst die Qualität einer ästhetischen Erfahrung ist? Vermag mich, was ich höre und sehe, zu bewegen, zu inspirieren, mein Herz und Hirn zu erreichen, oder auch Bauch und Beine? Da ist weit mehr denkbar, als wir derzeit sehen. Beim Rundflug über das Immer-noch-Neuland des Web finden wir definitiv zu viel vom Gleichen. Es wird – so die bisherige Regel, auch in Corona-Zeiten – ins Netz gestellt, was man analog so macht und produziert.
Viele Akteure der high culture tun sich ohnehin schwer mit den Möglichkeiten der Multimedialität, mit der Verlinkungs-Syntax des Digitalen, mit Perspektivwechseln, der Auflösung linearen Erzählens oder der nicht nur symbolischen Partizipation der Nutzer. Und das Publikum tut es ihnen nicht selten nach. Auch weil die innere Internet-Barriere gern grundsätzlich begründet wird, wie von Bojan Budisavljevic in der Neuen Musikzeitung: "Allen Stoff, den sie (die Digitalisierung) unter die Leute bringt, zermahlt sie in allerkleinste Partikel, Nullen und Einsen, um Wahrnehmung nicht zu gestalten, sondern selber zu ›machen‹. [...] Eine Rückkehr zu den Dingen alter Schriftlichkeit ist, abgesehen von ein paar in der Summe bedeutungslosen Vinyl-Freunden, [...] also gar nicht möglich. Innovation kennt nur eine Richtung, und was übrig bleibt, ist, bis auf immer neues technisches Gerät, so gut wie nichts."
Alles Eins und Null und sonst gar nichts: Auf diesem kultur- und medienkritischen Kampfplatz reite ich gern dem Ritter Don Quijote hinterher, dem Anfang des 17. Jahrhunderts die Medieninnovation massenhaft gedruckter Unterhaltungsliteratur das Hirn mürbe machte – so sehr, dass er gegen Windmühlen anritt, weil er sie für Riesen hielt. Don Quijote ist ein Held, weil an seinem Beispiel zu zeigen ist, wie geniale Ironie die orthodoxe Kritik am "neuen" Medium in große Literatur verwandelt hat.
Es ließe sich also auch etwas über die Komplexität seriellen Erzählens am Beispiel von Netflix-Serien sagen. Oder über Livekonzerte aus dem Konzerthaus Dortmund zu Beginn von Lockdown No. 1: Die Organistin Iveta Apkalna, allein auf der Bühne, verbeugt sich in den leeren Saal. Sie spielt Musik von Johann Sebastian Bach und Philip Glass. Der Pianist Pierre-Laurent Aimard spielt Bagatellen von Beethoven und Stücke aus Ligetis Musica Ricercata. Und spricht über unsere veränderte Zeitwahrnehmung im Zustand des Lockdowns und darüber, was ihn an dieser Musik bewegt und was uns in unseren Gehäusen bewegen könnte.
Zwei Musiker in einem leeren Saal, nichts weiter. Aber live: Es geschah in diesem Augenblick, gleichzeitig, und verwandelte den Moment der traurigen Abgeschnittenheit vom analogen Live in ein denkwürdiges Bild. Es war Musik für diesen Moment, und neben großer Kunst wurde hier ein Quantum Trost geteilt. Das Konzerthaus hat diese Konzerte gestreamt, und man muss kein Freund von Facebook, Twitter oder dem permanenten Kommentieren sein: Was da an Reaktionen geteilt wurde, hatte etwas Bewegendes. Es wurde Teil des Ganzen und war weder Prothese noch etwas Besseres, sondern schlicht etwas Anderes.
Hier verdichteten sich die Nullen und Einsen zu einer ästhetischen Erfahrung. Oft war und ist das sicher nicht der Fall. Die bloße Verfügbarmachung von Konserven oder Streamings kann es nicht sein, und dass klassische Musik zu Beginn der Pandemie wie selbstverständlich als Gratiskultur verbreitet wurde, auch nicht. Die Branche lernt in der Krise, und das Netz tut es auch. Unsere Begriffe von Nähe, Ferne, auch von Intimität werden neu zu untersuchen sein.
Wie wäre es, wenn wir uns vom Einfallsreichtum, von der Formenvielfalt, vom Überraschungsmoment der Kunst inspirieren lassen für einen einfallsreicheren Umgang mit der Musik im Netz? Da geht jedenfalls noch etwas im Zusammenspiel des Digitalen und der "Traditionsmedien". Dass wir gestresst sind von dem Zuviel-Zugleich hier und der mächtigen Einfalt der Algorithmen da: kein Wunder. Aber selbst gewählte digitale Doofheit ist auch keine Option.
Der Artikel wurde am 06. Januar 2021 in der Zeit publiziert.