Patrick Hahn über »filz« von Enno Poppe
Mozarts Klarinettenkonzert ist ganz sicher ein Gipfel der Musikgeschichte. Der große Kürtener Komponist Karlheinz Stockhausen riet seinen jungen Kollegen schon früh, die Sauerstoffflaschen nicht zu vergessen, wenn man sich beim Komponieren ins geistige Hochgebirge begibt. Enno Poppe hat sich offenkundig für Filz entschieden. Ein Material, von dem Kunstinteressierte spätestens seit Joseph Beuys wissen, dass es nicht nur hervorragend wärmt, sondern auch ästhetisch gewinnbringend einzusetzen ist. Filz ist elastisch, isolationsfähig und schwer entflammbar. Filz ist ein Textil aus ungeordnet, aber untrennbar eng verschlungenem Fasergut. Filz ist fast so alt wie die Menschheit (die ältesten Funde datieren aus der Jungsteinzeit), Filz ist weltweit bekannt (in allen Kulturen auf allen Erdteilen), Filz steht an der Schwelle von organischem Rohstoff und zivilisierter Verarbeitung. Und nun ist Filz auch noch ein Bratschenkonzert. Es lohnt nicht, dem Komponisten Näheres darüber entlocken zu wollen, in welchem Zusammenhang der Titel mit der Musik steht und doch wird man rasch fündig, folgt man dieser Assoziationskette, denn natürlich sind hier die Parts von Solistin und Ensemble engstens, ja, untrennbar dicht verschlungen und natürlich ist die Bratsche ein Instrument mit einem warmen, um nicht zu sagen, herzerwärmenden Klang. Und irgendwie geht das Stück auch geradewegs zu auf universale, weltumspannende Fragen des musikalischen Ausdrucks. Was ist ein Ton? Ab wann ist eine Verzierung des Tones noch eine Veränderung dieses einen Tones? Ab wann sind es zwei? Ab wann sind solche zwei Töne ein Motiv, ab wann eine Melodie, ab wann ist die Melodie eine Erzählung?
Aber zu den Äußerlichkeiten zunächst: Die Solobratsche erhält einen Filzmantel von vier ersten und vier zweiten Violinen, vier Bratschen, vier Celli und zwei Kontrabässen sowie vier Klarinettisten, die alle auch mit Bassklarinetten ausgestattet sind – und einer der Spieler auch mit einer Kontrabassklarinette. »Vier Bassklarinetten, die zusammentreten, erzeugen einen einzigartig eigenartigen Klang«, so der Komponist. »Dahinter steht die Idee, dass die Bratsche zwar schon sehr warm ist, aber dass ich für das Stück noch eine Art Fußbodenheizung brauche. Also die Wärme, die aus der Tiefe kommt. Die passt ideal zur Bratsche.«
Enno Poppes Filz hat – wie viele klassische Konzerte – drei Sätze, die potentiell attacca aufeinander folgen können. Umgekehrt zu den meisten traditionellen Konzerten rahmen zwei langsame Teile einen schnellen Teil ein. »Ein Vorbild gab es dazu nicht. Der erste Satz hat Steigerungsstellen, wo sich das Geschehen immer mehr verdichtet und beschleunigt und damit auf den zweiten Satz zuläuft. Der zweite Satz ist insofern auch nicht ganz getrennt vom ersten und arbeitet auch mit keinem ganz anderen Material – die Sätze sind sehr verwandt. Letzen Endes wird man das ganze Stück vielleicht eher als eine dreiteilige Großform auffassen und gar nicht als wirklichen Dreiteiler. Was auch schon dadurch gewährleistet ist, dass es am Ende des dritten Satzes sehr viele Rückbezüge auf den ersten Teil gibt. Es entsteht eine Art Bogenform.« Das Stück beginnt mit einem Monolog der Bratsche. Er ist geprägt von starken dynamischen Schwankungen, vom piano bis zum dreifachen fortissimo. Auch ist dieser Anfang bereits spieltechnisch recht genau bezeichnet: welcher Strich, welche Saite gibt der Komponist hier vor – und auch sehr genau, wo er gern Vibrato hätte und wo nicht. Im Vergleich zu anderen Partituren des Komponisten, wo die Spielanweisungen in sprechende, plastische Sprachbilder gefasst sind, reduziert er hier seine Vorgaben auf die klassischen italienischen Vortragsanweisungen: poco a poco vibrato, vibrato, molto vibrato, gelegentlich auch einmal vibrato dolcissimo.
»Ich habe davon Abstand genommen, unterschiedliche Vibrati, die ich mir vorstelle, ganz genau aufzuschreiben. Komponistenmäßig wäre, dass man sich eine Tabelle baut, alle möglichen Vibrati auflistet und dann aus dem Hut zaubert. Aber das hätte wahrscheinlich die klangfarblichen Möglichkeiten eingeschränkt und nicht erweitert. Tabea Zimmermann hat eine unglaubliche Vielfalt an Vibrato-Farben zur Verfügung, die wir dann während der Proben noch erarbeiten werden.« Dass ein Stück von Enno Poppe mit Bratsche solo beginnt ist keine Seltenheit. Bei vielen Stücken, so in Salz, Keilschrift, Wald und Speicher initiiert die Bratsche den Prozess, tritt als erste aus dem Dunkel hervor, bevor sie dann meist von den dominierenden Oberstimmen »gefressen« wird.
Anders als bei vielen anderen Stücken steht hier am Anfang jedoch keine kleine motivische Zelle, sondern ein längeres Gebilde, das auch nach traditionellen Vorstellungen einen melodischen Kern enthält. »Im Grunde ist der Beginn so etwas wie eine Phrase, die auch am Anfang mit Vordersatz und Nachsatz gestaltet ist«, sagt der Komponist, »also im Grunde ein relativ traditionelles Gebilde, das ein bisschen auch an außereuropäische Melodiebildung erinnert. Vielleicht kann man diese zwei Teile des Anfangs auch wie ‚Call-and-Response’ betrachten, als Ruf und Antwort. Jedenfalls als zwei verschiedene Elemente, die immer zueinander in Beziehung stehen und die man sofort wiedererkennen kann, auch wenn sie immer weiter ausgeweitet werden und mäandern. Mich interessieren die energetischen Flüsse in diesem erzählerischen Ton, der das Stück prägt. Der dritte Satz ist da ganz ähnlich. Der Anfang vom letzten Satz ist fast wie eine Variation vom Anfang des ersten Satzes, weil das auch nochmal so eine ‚Doppelzelle’ darstellt. Die Zellen sind hier aber viel länger als ich sie sonst meistens benutzt habe. Es geht um ein ganz anderes Tempo und dadurch auch um eine größere formale Disposition. Der mittlere Satz fällt da ein bisschen heraus. Er ist relativ kleinteilig.«
Es wird spannend sein zu hören, wie sich zwischen den Sätzen kleine Vibrati schließlich in Glissandi auflösen, wie Verzierungen sich in melodische Gebilde verwandeln – und umgekehrt, große Linien in ihren Ursprung zurückkehren. Dieser Ursprung ist der Anfang der Solobratsche. Dadurch ist sie das beherrschende Instrument dieses Konzerts, auch wenn sie sich im Laufe des Stücks immer wieder auch im Ensemble verbirgt. »Ich mag immer das Dialogische«, so Enno Poppe, »wenn sich Dinge aufeinander beziehen, vor allen Dingen auch Kommunikation unter Musikern. Andererseits finde ich es toll, etwas wirklich in den Mittelpunkt zu stellen. In diesem Stück konnte ich beides miteinander verbinden. Es werden unheimlich viele Facetten der ursprünglichen Bratschenmelodie sichtbar, die ich durch alle Register führen und in den verschiedensten Varianten zeigen kann, zugleich hat sie stets einen Untergrund. Im Grunde bleibt es ein Solostück, das aber verdichtet, vergrößert und weitergetragen wird. Manchmal verschwindet die Solistin auch in dem ganzen Gebilde. Sie ist dann mal weg und kommt wieder hervor. Das finde ich sehr faszinierend.«