Benjamin Britten – Lachrymae. Reflections on a Song of Dowland op. 48a für Viola und Streichorchester
Benjamin Britten war ein glänzender Pianist und Dirigent, konnte aber auch Bratsche spielen, wie überraschend viele seiner Kollegen – Mozart, Mendelssohn, Dvořák, Hindemith und sogar Beethoven. Warum die Affinität zu diesem Instrument, das in der Sololiteratur des 18. und 19. Jahrhunderts etwas unterrepräsentiert ist? Vielleicht machte sie es den Komponisten leichter, den Klang von einer zentralen Position des Tonhöhenspektrums aus zu denken. Britten hat eine ganze Reihe von Bratschen-Werken geschrieben. Das vermutlich wichtigste unter ihnen, Lachrymae,ist 1950 entstanden. Die Originalversion mit Klavierbegleitung bearbeitete der Komponist in seinem Todesjahr 1976 für Bratsche und Streichorchester.
Den zehn Variationen liegt als Thema John Dowlands Lied If my complaints could passions move zu Grunde. Nicht als Ausgangspunkt allerdings, sondern als Fluchtpunkt – in seiner originalen Gestalt hört man es erst in der letzten Variation. Die Musik reist also gewissermaßen in die Vergangenheit, zum Shakespeare-Zeitgenossen Dowland, der von 1563 bis 1626 lebte.
Ganz zu Anfang zitiert die Bratsche die ersten Töne des Lieds, um sie zu einem dissonanten Akkord zu verschmelzen. Wenig später erklingt der Anfang der Melodie in Celli und Bässen, erneut durch ein atonales Umfeld verschleiert. Die folgenden, ohne Unterbrechung ineinander übergehenden Variationen zeigen Motive des Liedes in der Umkehrung, zitieren rhythmische Elemente und führen zu gezupften und auf dem Steg gespielten Passagen. In der sechsten Variation verwendet Britten in der Bratsche ein zweites Lied von Dowland: Flow, my tears. Und dieses spendet Brittens Werk den lateinischen Titel, in einer ursprünglichen Instrumentalversion hieß Dowlands Lied nämlich »Lachrimae Pavane«, also etwa: Die Pavane (ein langsamer Tanz) der Tränen. Die Pavanes waren Vorläufer der Tombeaus, Kompositionen im Gedenken an Verstorbene, musikalische Grabsteine. Große Ernsthaftigkeit bestimmt Brittens Musik, überall ist sie von einer kargen Setzweise geprägt: Jeder Ton hat Gewicht, in den unbegleiteten Partien ebenso wie an den Stellen, in denen Britten über einzelne Akkorde nachzudenken scheint. Erst ganz am Ende wird das Lied mit Dowlands eigenen Harmonien vorgestellt. Der von Britten bewunderte Alban Berg hat in seinem Violinkonzert etwas Ähnliches gemacht – dort wird ein Bach-Choral erst am Schluss in seiner Original-Gestalt freigelegt