Der Gründer des Kinderhospizes »Sternbrücke« im Gespräch mit Ensemble-Konzertmeisterin Juditha Haeberlin
Uwe Sanneck ist Trauerbegleiter, Pädagoge und Gründungsmitglied des Kinderhospizes Sternenbrücke. Über Tabus, Rituale, gutes Leben und Abschiednehmen sprach er mit Juditha Haeberlin, Konzertmeisterin des Ensembles, die ehrenamtlich als Sterbebegleiterin im Hamburger Hospiz arbeitet.
Die Hospizkultur ist 50 Jahre alt, du bist mit der Gründung des Kinderhospizes Sternenbrücke seit 1998 in dem Thema. Wie sterben wir heute? Welche Veränderungen gibt es in den letzten Jahrzehnten oder: Ist der Tod immer noch ein Tabuthema?
Ja, das ist er. Wir sprechen heute am Kaffeetisch über alles Mögliche, aber über alles andere als über Sterben, Abschiednehmen und den Tod. Es hat zwar Veränderungen gegeben, u. a. durch Frauen und Männer, die in der Hospizbewegung und Sterbeforschung wichtige Impulse gesetzt haben – wie Cicely Saunders aus England oder Elisabeth Kübler-Ross. Noch andere Frauen und Männer haben in dem Bereich Großes geleistet. Aber es sind definitiv keine paradiesischen Zustände, was das Sterben angeht. Wir sind immer wieder erstaunt darüber, was Tod bedeutet, was Abschied heißt und was das mit uns macht. Die größte Angst bei der Auseinandersetzung mit dem Tod ist, dass das auch was mit uns selber zu tun hat: Wie will ich von dieser Welt gehen? Was nehme ich mit, was nehme ich nicht mit? Wer soll mich begleiten? Wer soll an meiner Seite sein? Wie will ich von Dannen ziehen ohne dass andere Schaden nehmen? ›Denn wer als Löwe gelebt hat, wird nicht als Lamm sterben!‹
Die Hospizkultur hat viel dazu beigetragen, den Tod in die Mitte der Gesellschaft zu holen und darüber zu reden. Gleichzeitig geht es in unserer Gesellschaft darum, jung sein zu müssen, fit zu sein, mit 65 den Marathon zu schaffen… Drängt dieser Jugendkult den Tod und das Nachdenken darüber in den Hintergrund?
Ja, das ist kontraproduktiv. Kontraproduktiv zu den Lebensgeschichten und Lebensliedern, die jeder Mensch in sich trägt. Wenn wir nur der Jugend nachjagen, werden wir atemlos. Denn es bedeutet, dass wir uns nicht beheimaten in den Bedingungen unserer eigenen Lebenssituation. Im Alter werden wir einfach langsamer nicht mehr alles, was der Körper sonst hergegeben hat, funktioniert mehr einwandfrei. Wie wir in Würde und der eigenen Fürsorge altern können – das sind Überlegungen, die für viele Menschen Stress bedeuten. Und natürlich setzt man sich nicht gern mit dem auseinander, was das Lebens Ende bedeuten kann.
Du sagst, wir haben noch keine paradiesischen Zustände im Umgang mit dem Sterben. Welche Zustände würdest du dir wünschen, wenn du sofort etwas verändern könntest?
Ich würde mir wünschen, dass die Selbstbestimmung des Sterbens mehr in den Fokus rückt. Wir sollten uns nicht wie die Wahnsinnigen auf die Apparatemedizin verlassen, sondern die Zeichen sehen und erkennen, wenn jemand sterben möchte, und dies dann in die Hände des Sterbenden legen. Denn wir sind in der Eigenverantwortung unseres eigenen Sterbens. Es gibt immer mehr Menschen, die nicht in die Abhängigkeit von Maschinen geraten wollen, wenn man eigentlich schon längst ›Adieu‹ sagen würde. Der Kleine Prinz sagt diesen wunderschönen Satz ›Adieu, man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar‹. Ich denke, dass wir – was das Sterben angeht – viel mehr mit dem Herzen und allen Sinnen arbeiten müssen.
Ich wünsche mir eine stetige Veränderung und zukunftsweisende Umkehr im Gesundheitsbereich. Es sollte für alle Menschen flächendeckend die Möglichkeit geben, eine palliative Versorgung zu bekommen, was bedeutet, dass sie sich schmerzfrei, eigenbestimmt und eigenverantwortlich dem Sterben zuwenden können. Das müssen wir unbedingt auch viel mehr in der Öffentlichkeit thematisieren! Es muss klar sein, dass ich mich in die Hände von guten Palliativ- und Pflegeteams begeben kann, wenn ich das möchte und dass die mich so begleiten, dass ich eine größere Leichtigkeit für mich entdecken kann, was die Vorbereitung auf das Sterben anbelangt.
Es bedeutet nicht nur, dass die Hospizbewegung einen wichtigen Stellenwert in unserer Gesellschaft einnimmt, sondern dass sich unser ganzes Bildungssystem verändern müsste, dass der Tod zum Beispiel ein Thema im Kindergarten und in den Schulen ist, dass man sich miteinander über Ängste aber auch über Freuden des Lebens auseinandersetzt, damit der Tod nicht so angstbesetzt ist. Denn wir wissen alle – was uns Angst macht, wenn man das auslacht, ist alles wesentlich einfacher mit dem Leben und dem Tod.
Die Hospizbewegung ist ja eine Haltung und sie sagt, dass wir erst dann angekommen sind, wenn Sterben und Tod ins Leben reintegriert sind, wenn sterbende Menschen immer noch am Leben teilhaben.
Ja, wir müssen entdecken, was eigentlich Leben bedeutet – von der Wiege bis zur Bahre. Was bedeutet eigentlich Wertschätzung des Lebens? Was bedeutet Empathie für meine Mitmenschen? Was bedeutet Herzensverbindung? Wie lebe ich Eigenfürsorge, damit ich Lebensfürsorge schöpfen kann?
Was bedeutet für dich ein gutes Leben?
Aufgehoben zu sein in Herzensverbindungen; zu wissen, ich werde gebraucht; Offenheit und mich beheimaten in meiner eigenen Wahrhaftigkeit. So kann ich auf Menschen zugehen, Ihnen die Hand reichen und meine Unterstützung, meinen Beistand oder meine Impulse anbieten. Ein gutes Leben zeichnet sich dadurch aus, dass wir in vielen Momenten in einer Gemeinschaft von treuen Freundinnen und Freunde verbunden sind, die uns in schweren Zeiten nicht verlassen und die darauf achten, dass alle Lebensthemen zur Sprache kommen – auch die schwierigen. Für mich bedeutet das auch immer: im Gespräch sein in der Hinwendung und in der Frage des Lebens sein… Diese Neugier aufs Leben, das ist das Entscheidende! Wir sollten immer wieder neugierig sein auf das eigene Leben aber auch auf das Leben von anderen, von Menschen, die uns wohlgesonnen sind, die wir begleiten, die uns begleiten, mit denen wir weinen und lachen, Tränen, Hoffnungen, Träume und Feste des Lebens teilen. Denn das Leben kann häufig ein Fest sein, wenn wir den Tod nicht ausgrenzen.
Es heißt, dass Menschen am Ende ihres Lebens altruistischer werden, mehr an die Gemeinschaft denken, dass es auf einmal wichtig wird, sich auszusöhnen, etwas zurückzugeben an die Gemeinschaft. Hast du diese Erfahrung auch gemacht?
Mein Credo ist: Wir sind in einer Lebensschule und darum sollten wir im Laufe unseres Lebens lernen, dass wir am Ende unseres Lebens nicht einsam und verbittert sterben. Das bedeutet, ich selber muss dafür Sorge tragen, dass ich meine Kriegsschauplätze befriede. Wenn ich den Streit mit meiner Schwester um das Erbe oder mit dem Nachbarn um Nichtigkeiten nicht beilege, werde ich nicht friedvoll sterben können. Wenn ich diese Kämpfe in mir habe, dann seh‘ ich ziemlich alt aus und meine Seele ist zerknittert und ich finde keinen Zustand der Barmherzigkeit und des himmlischen Friedens.
Vermutlich hat noch niemand kurz vor dem Tod gesagt, ach, hätte ich doch mehr gearbeitet, sondern eher: Hätte ich doch mehr gegeben!
Im Angesicht des Todes sollten wir sowieso erstens das Zeitfenster größer gestalten, also Abschiedssituationen mehr Raum und Zeit geben, um das zu bedenken, was man miteinander geteilt und gelebt hat, was man sich gegenseitig geschenkt hat und auch was man sich verweigert hat. Das bedarf einer umfassenden Ehrlichkeit. Es bedarf das Gefühl, etwas zu geben aber auch etwas zurückzubekommen. Ich bin dankbar, wenn ich sehe, dass Kinder mit Eltern, die auf dem Sterbebett liegen, ins Gespräch kommen und schauen was sie verbunden hat. Was haben sie sich gegenseitig für das Leben geschenkt und gegeben? Was ist nicht so gut gelungen und für was müssen wir uns gegenseitig vergeben?
Und zweitens sollten wir immer wieder bedenken, wie kostbar das Leben ist. Denn der Tod an sich ist grausam, brutal, unerträglich – weil es für den Sterbenden, der vielleicht gern noch auf unserer Welt bleiben würde, eine große Zumutung ist und uns Hinterbliebenen das Herz fast zerreißt, auch wenn der Tod manchmal eine Erlösung ist. Wir müssen lernen, dafür Sorge zu tragen, dass der Tod eine lächelnde Schwester oder ein lächelnder Bruder ist, der mich einlädt und alle anderen Trauernden mit hineinnimmt, damit wir das gemeinsame Abschiednehmen tragen können.
Brauchen wir mehr Rituale beim Sterben und beim Tod – eine Art Liturgie? Kann es uns das einfacher machen mit dem Thema umzugehen?
Ja, ich glaube, dass wir tragende Rituale benötigen. Rituale dienen dazu, dass wir das, was wir auf unseren innerseelischen Leinwänden an Gefühlen entwerfen, wieder nach außen bringen. Das kleinste Ritual, was uns in der ganzen Welt verbindet, ist die Kerze und das Licht – ob bei Taufe, Geburt, Beerdigung, Geburtstag. Rituale sind wichtig, weil wir dadurch innere und äußere Bilder entstehen lassen könne. Also wie geht es mir gerade, mir, der gerade stirbt und mir, der Abschied nehmen muss bzw. der Sterbende selbst muss ja auch Abschied nehmen von seinem eigenen Leben. Aber es fängt schon viel früher an: wir müssen mutiger werden, Desperados des Lebens sein, indem wir unsere Toten wieder nach Hause holen, um uns dort zu verabschieden und nicht in den kalten Sälen und Katakomben von Kliniken. Früher war es normal, dass die ganze Dorfgemeinschaft Abschied nimmt. Das ist etwas, für das ich mich seit Jahren sehr stark einsetze – in meiner Arbeit im Kinderhospiz und der Trauerbegleitung. Dadurch habe ich schnell wahrgenommen, dass es stärkende und tröstende Rituale geben muss. Aber zugleich habe ich den Menschen immer auch gesagt, ich kann euch eine Palette von Ritualen vorschlagen, doch was nützen sie euch, wenn es nicht eure sind. Denn ihr müsst sie selbst schöpfen. Ihr müsst eure Rituale selber entwickeln – was Sterben, Tod, Trauer und Abschied angeht. Erst dann ist ein Ritual beseelt und erst dann trägt es und kann für alle beteiligten Menschen auch trostreich und hilfreich werden.
Du hast viele Erfahrungen gesammelt in deiner langjährigen Arbeit im Kinderhospiz – gehen Kinder anders mit ihrem Sterben um als Erwachsene?
Ja, Kinder gehen mit den gleichen Ängsten um wie Erwachsene, aber sie sind manchmal von so einer radikalen Wahrhaftigkeit, dass das für die Angehörigen sehr erschreckend sein kann. Und sie nehmen, neben all den Ängsten, die auch Kinder und Jugendliche haben, das Leben in ihrer letzten Lebensphase noch einmal viel bewusster wahr. Mit vielen kostbaren Momenten von Humor oder auch von tiefer philosophischer Ernsthaftigkeit. ›Wenn man stirbt, bleibt der Rest auf der Erde, die Seele verreist‹, hat mal so ein sechsjähriger Knabe gesagt. Einfach grandios! Da brauchen Philosophen hunderte von Jahren um solch einen Gedanken zu gebären. Ich sehe Kinder und Jugendliche als die Nabelschnur zwischen Himmel und Erde; weil die Verbindung noch nicht so lange gekappt ist, sie sind in ihrer Einmaligkeit noch nicht so verborgen – das heißt Leben pur. Sie gehen viel offener mit ihren Gefühlen um. Wenn etwas Scheiße ist, dann brüllen sie das raus oder zeigen es uns umgehend. Es gibt aber kein gleichbleibendes oder immer wiederkehrendes Sterben von Kindern und Jugendlichen, Kinder sterben genau so individuell wie Erwachsene. Manche ganz schnell, mache langsam, manche hadern damit, manche sind wütend, dass ihre Geschwister weiterleben dürfen. Was wirklich anders ist, ist, dass sie viel eher dann irgendwann engelsgleich zur Ruhe kommen. Ich habe Erwachsene gesehen, die selbst noch mit dem letzten Atemzug gekämpft haben. Das habe ich bei Kindern und Jugendlichen nie erlebt. Sie sind dann für sich so weise und reif, packen ihren letzten Koffer, um den Schlüssel zu finden und durch die letzte Tür zu gehen.
Es ist wichtig – das sage ich aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung in dieser Arbeit –, dass Sterben und Trauerfeiern keine Events werden. Diese Abschiedsfeiern oder auch diese letzten Stunden sollten nicht zu etwas werden, wofür Eventmanager mit dem Auftrag engagiert werden, etwas Schönes draus zu machen. Vielmehr sollte das, was Familie, Freunde, Wegbegleiter und der Sterbende miteinander verbindet, noch mal zum Tragen kommen. Das kann ein Geschenk werden für alle, damit die Erinnerung in den Herzen einen Platz findet.
Passiert das denn? Wahrscheinlich aus einer Angst heraus, das selber nicht planen zu können?
Ja, das passiert. Bitte gebt eure Gedanken und Wünsche, die euch nach dem Tod von Angehörigen wichtig sind, gebt sie mit ein. Es ist wirklich so, dass man in unserer Gesellschaft nicht gut vorbereitet ist. Man bereitet Urlaubsreisen wahnsinnig gut vor, bis ins Detail, aber die letzte, die Lebensendreise – da denkt keiner dran. Wie oft höre ich, damit hätten wir uns früher beschäftigen sollen, ob Patientenverfügung, anonyme oder nicht anonyme Beerdigung oder die Gestaltung der Trauerfeier. Das liegt daran, dass man sich vorher nicht getraut hat, darüber miteinander zu reden.
Eigentlich wäre ein Fragenkatalog eine gute Idee, oder? Nicht nur die rein organisatorischen Fragen, sondern ›Hast du Angst vor dem Tod?‹, ›Wie geht es dir damit?‹
Ja, ein Lebensfragebogen. Und was ich noch wichtig finde, dass wir wirklich ein Bewusstsein dafür bekommen, selbst im Angesicht des Todes dazu beitragen zu können, miteinander ein Fest des Lebens zu gestalten – mit den Dingen, die dem Sterbenden im Leben wichtig waren, sei das die Lieblingsgeschichte, Gedichte, das Lieblingsmärchen, schöne Musik und Lieder...
Ich weiß, dass du ein sehr humorvoller Mann bist. Ist Humor, zusammen lachen auch beim Sterben wichtig oder am Krankenbett nicht passend? Können Tod und Humor zusammenpassen?
Wir sollten den Humor nicht an der Haustür, an der Tür von Klinik, Pflegeeinrichtung, Palliativstation oder Hospiz abgeben! Humor gehört einfach zum Leben, also auch zum Sterben dazu. Ich habe urkomische Situationen erlebt, und gemeinsam zu zu lachen – das tut dem Herzen und der Seele gut. Wer eine Schraube locker hat, hat mehr Spielraum im Leben und auch im Tod. Das ist so. Aber man sollte es auch nicht erzwingen. Ein lebenswerter Satz im Abschiednehmen: ›Manchmal haben wir uns totgelacht, dem Leben hat es nicht geschadet!‹ Ein wichtiges Credo im Leben wie im Sterben, finde ich.
Hilft dir dein eigener Glaube bei der Arbeit mit dem Tod und mit Sterbenden?
Ich bin im Glauben unkonventionell, ich habe eine große Weite. Mein Glauben hilft mir, weil ich dadurch eine Stärkung und eine Hinwendung zu meiner eigenen Fürsorge bekomme – und Eigenfürsorge ist immer Lebensfürsorge. Dadurch habe ich die Kraft, Menschen so zu begleiten wie sie sich das von mir wünschen. Ihnen also nicht mein oder ein Konzept überzustülpen, wie Sterben oder Trauer zu sein hat, sondern das aufzunehmen, was ich sehe, was ich rieche, spüre, was ich entdecke, und was mir an Impulsen geschenkt wird.
Welche Musik wünscht du dir für deine eigene Trauerfeier?
Ein buntes Potpourri wie mein Leben, eine Mischung aus Klassik, Balladen, Hip-Hop, große Stimmen und Chöre, vielleicht den ein oder anderen Liedermacher wie Konstantin Wecker. Auch politische Lieder sollen gespielt werden, denn Haltung war und ist mir immer wichtig gewesen. Humorvolle Gedanken und Ansprachen, denn ich möchte den Freundinnen, den Wegbeleitern und meinen Lieben noch etwas mit auf den Weg des irdischen Lebens geben, damit sie im Schmunzeln, Kichern und Lachen mit allen Sinnen von mir Abschied nehmen können.