Ein mozartscher Fall

Die symphonische Trilogie aus dem Sommer 1788

»Ich habe in den 10 tagen daß ich hier wohne mehr gearbeitet, als im andern logis in 2 Monathe; und kämen mir nicht so oft so schwarze gedanken, die ich mir mit gewalt ausschlagen muß, würde es mir noch besser von statten gehen; denn ich wohne angenehm.« W. A. Mozart, 27. Juni 1788

Die drei letzten Symphonien Mozarts entstehen in einer Zeit des Trauerns über den Tod der Tochter Theresia, die nur sechs Monate alt wurde, und der finanziellen Not, von der etliche Briefe zeugen. Österreich wird von einer schrecklichen Wirtschaftskrise erfasst, nachdem es im Februar 1788 an der Seite Russlands in den Krieg gegen das Osmanische Reich eingetreten ist. Eine galoppierende Inflation, Hungersnot, Epidemien und die Revolten, die daraus erwachsen, bringen das künstlerische Leben vollkommen zum Erliegen. Und Mozart, der es versäumt hat, in den lukrativen ersten Jahren des Jahrzehnts Geld zurückzulegen, ist nun auf die Großzügigkeit seiner Freunde angewiesen. Er wendet sich als Bittsteller insbesondere und wiederholt an seinen Logenbruder Puchberg, einen vermögenden Tuchhändler.

Um Miete zu sparen, zieht Mozart mit seiner Familie in eine Wohnung außerhalb des Zentrums von Wien, wo sich aufzuhalten ihm nicht mehr wichtig schien. Und da scheint er sich in eine Reihe von Kompositionen zu verlieren, die wie ein Befragen der Auszeit in jener Periode des Jahres 1788 anmuten: 22. Juni, Klaviertrio in E-Dur, KV 542; 26. Juni, Klaviersonate in C-Dur, KV 545, sowie Adagio und Fuge für Streichquartett in c-Moll, KV546; 10. Juli, Violinsonate in F-Dur, KV547; 14. Juli, Klaviertrio in C-Dur, KV548; 16. Juli, »Più non si trovano«, Canzonetta für zwei Soprane und Bass in B-Dur, KV 549; 11. August, »Beim Auszug in das Feld«, Lied für Sopran in A-Dur, KV 552; 27. September, Streichtrio in Es-Dur, KV 563, Divertimento für Violine, Bratsche und Violoncello usw. Die berühmte Trilogie der letzten Symphonien entstand in einer sehr kurzen Zeitspanne: 26. Juni, Nr. 39 in Es-Dur, KV 543; 25. Juli, Nr. 40 in g-Moll, KV 550; 10. August, Nr. 41 in C-Dur, KV 551 (»Jupiter«).

Eine einzige große Symphonie in drei Episoden

Wenn auch jedes dieser drei Meisterwerke Charakteristika aufweist, die es einzigartig machen, kann das Ganze nicht weniger auch als Wegstrecke betrachtet werden, die aus der harmonischen Introspektion und der chromatischen Unentschiedenheit der langsamen Einleitung der Symphonie Nr.39 erwächst. Diese Introduktion am Anfang ist ein Solitär innerhalb der Trilogie und von einer für damalige Verhältnisse ganz ungewöhnlichen Länge. Sie wird durchzogen von einer obsessiven Figur aus zwei gleichen Noten, deren Repetition eine beschwörende Wirkung ausübt. Bereits in dieser Symphonie als dem ersten Teil der Trilogie werden verschiedene Versuche der Auflösung unternommen: im folgenden Allegro, das elegisch und kraftvoll zugleich ist; im langsamen Satz mit den farbenfroh geteilten Holzbläsern und ungeachtet der brüsken, unvermittelten Zäsuren; im energischen Menuett, dessen Trio wie ein Volkstanz klingt. Der letzte Satz zeigt sich äußerst beschwingt und erinnert mit seiner atemberaubenden Art an das Finale einer Opera buffa.

Womit die nächste Symphonie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Die schmerzerfüllte Farbe der Tonart g-Moll legt sich sogleich über eine eindringliche melodische Formel aus zwei Achtelnoten und einer folgenden Viertelnote: ein fliehender, nicht zu erhaschender musikalischer Anapäst, der das Potential hat, tage- und nächtelang im Ohr des Hörers zu verbleiben. Unbeständige Modulationen verbreiten sich weit über die damals üblichen Grenzen hinaus und prägen den ganzen Satz. In der Art einer ausgedehnten Sonatensatz-Durchführung bewegt sich das Werk durch düsterste Klangwelten und in Tonarten, die sehr weit vom Ausgangspunkt entfernt liegen. Das Andante führt mit seiner gefühlsbetonten Stimmung zwar eine vorübergehende Beruhigung herbei, doch bleiben die Klänge unendlich schwermütig, und die Sonatensatzform mit einer für einen zweiten Satz ungewöhnlichen Durchführung mutet wie eine lange Periode des Herumirrens an, aus der man schwer entweichen kann. Das Menuett steht in ernstem Moll und lässt die Funktion der Entspannung, die diesem Genre eigentlich immer – fast routinemäßig – zufällt, ebenso vermissen wie den durch seinen ursprünglichen Zweck als Tanz gegebenen, stabilisierenden Charakter und steigert dadurch die Anspannung noch. Und das hastige, rhythmisch und harmonisch hektisch verlaufende Finale ist nichts Anderes als eine lange Durchführung ohne Auflösung. Es gibt keine Rückkehr in die Dur- Tonart, nicht einmal mittels der großen Terz im Schlussakkord, die dem Prinzip der »Picardischen Terz« als Symbol der Hoffnung entspricht. Selten hat Mozart eine solche Verzweiflung zum Ausdruck gebracht. Doch wird er immerhin die erste Fassung etwas abmildern, indem er zusätzlich Klarinetten einsetzt, welche den herben Klang der Oboen etwas auszugleichen vermögen.

Schöpft er dann wieder Mut? Die Symphonie Nr. 41 in C-Dur klingt wie eine große Auflösung all der vergangenen Spannungen. Weit ausladend und leuchtend, entfaltet sie die Erhabenheit, Klarheit und Poesie, die zur Entstehung des apokryphen Beinamens »Jupiter« beigetragen haben. Der erste Satz verläuft erkennbar in der Sonatensatzform, wobei freilich eine sehr weitläufige Entwicklung stattfindet und die gewohnten Proportionen überschritten werden. Die volltönenden, feierlichen Rollbewegungen in der Einleitung entsprechen mit ihrer Dreizahl dem Eröffnungsaufgebot der Logenarbeiten, und jede der fünf Unterstimmen ist geprägt von einem Orgelpunkt, der die formale Anordnung klar eingrenzt. Das folgende Thema – heiter und hüpfend – stammt aus der kleinen Arie Un bacio di mano KV541, die Mozart im vorangegangenen Frühjahr komponiert hat. Es geht darum, dem Leben die guten Seiten abzugewinnen, insbesondere was das Verhältnis zu Frauen betrifft: einer der Topoi der Opera buffa (man denke an Così fan tutte). Doch die musikalische Sprache ist frei von allem Scherz: Der Tonsatz ist dicht, geradezu komplex und reich an Mittelstimmen. Die Kraft, die davon ausgeht, vermag den unvermuteten Moll-Ausbruch vorbeiziehen zu lassen und geleitet mit ausladender Geste in die triumphale Coda. Es folgt das Andante: ein großes Cantabile, bei dem nunmehr die Oboe zum Zug kommt, die die elegische Melodie der Violinen einfärbt und mit diesen wohlklingenden Klangfarben verschmilzt. Der kontrapunktische Satz, der dem ganzen Werk zugrunde liegt, führt belebend zum Menuett und bestimmt die Struktur des Finales: Seine beiden herausragendsten Themen werden zum Subjekt bzw. Kontrasubjekt einer Fuge und übertragen auf die Dimensionen des Symphonieorchesters eine Technik, die Mozart bis dahin im Wesentlichen lediglich für Übungsstücke und kleinere Besetzungen vorgesehen hat.

Hin zur Katharsis

Mozart wendet hier die Tonsprache der weiträumigen, instrumental und vokal groß besetzten Tableaus am Schluss eines geistlichen Werks an. Das erste Thema klingt wie ein Cantus firmus (der »vorgegebene Gesan« aus dem geistlichen Repertoire) aus vier stabilen, regelmäßigen, langen Noten: c, d, f, e. Dieses Motiv hat Mozart bereits vorher mehrere Male benutzt, und er spielt damit bedeutungsvoll mit der Intertextualität: Im langsamen Satz seiner Symphonie Nr. 1 in Es-Dur, KV16, die er achtjährig in London komponierte, lässt er es in den Hörnern hören, nachdem er seine ältere Schwester gebeten hat, ihn daran »zu erinnern, etwas Interessantes für die Hörner zu schreiben«, wie aus Nannerls Tagebuch hervorgeht; es erscheint auch in seiner Symphonie Nr. 23 in D-Dur, KV 181/162b (1773), eingebettet in für die Salzburger Zeit typische galante Klänge, und im Credo seiner Missa brevis KV 192/186f (1774). Hier ist bemerkenswert, dass Mozart während des ganzen Gebets auf obsessive Weise das Incipit »Credo, credo« auf den vier Noten wiederholen lässt, wo doch im Text das Wort zur einmal, und zwar am Anfang, vorkommt. Es handelt sich also um ein vertrautes Motiv, das mit glücklichen, hoffnungsvollen Momenten assoziiert werden kann, und indem Mozart es im langsamen Satz der Symphonie Nr. 40 zitiert, schafft er eine enge Verbindung zwischen den beiden Werken. Es zum Schluss zu überhöhen, ist keinesfalls abwegig oder experimentell, die Symphonie gehört damit vielmehr zu jener Symbolik, die keine Worte braucht, um sinnvoll zu sein: In diesem Monat August 1788 sagt Mozart erneut »Ich glaube«. Und diese Auflösung zeugt davon: Durch ihre Energie wirkt sie direkt auf das Werk ein, ja sogar auf die ganze Trilogie und vermag so deren Spannungen zu lösen.

FLORENCE BADOL-BERTRAND

Übersetzung: Irène Weber-Froboese

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