Maria Gnann über Beat Furrers »Spazio immergente III«
Ein philosophischer Lebensratgeber. So würde man Lukrez’ über zweitausend Jahre altes Werk »De re- rum natura« (»Über die Natur der Dinge«) vielleicht heute anpreisen. In dem sechsbändigen Lehrgedicht »beweist« der Philosoph religionskritisch die Sterblichkeit der Seele und schildert das Leben der Menschen als von Göttern nicht beeinflussbar. In chaotischen Zeiten möchte er zu Ruhe und Gelassenheit verhelfen und den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen. Lukrez bezog sich in seiner Philosophie vor allem auf die Lehre Epikurs, dessen Physik, Psychologie und Kulturtheorie er verbreiten wollte.
Acht Verse aus Lukrez’ Büchern haben den Komponisten Beat Furrer, Fan antiker Dichter, offenbar nicht mehr losgelassen:
»...dass nicht wie Flammen die Mauern des Weltalls plötzlich entflieh'n in's unermessliche Leere,
nicht nach oben entstürzen die donnernden Himmel und die Erde dem Fuß sich reißend entziehe
im Sturz der Himmel
in hohler Tiefe verschwinde,
und nichts, kein Rest mehr bleibt –
verlassener Raum.«
Schon zum dritten Mal hat Furrer diesen Text als »Immerwährenden Raum« vertont: 2014 in »Spazio Immergente« für Solostimme und Posaune, 2015 in »Spazio Immergente II« für 2 x 16 Singstimmen und Schlagzeug und jetzt, 2019, in »Spazio immergente III« für Posaune, Sopran und Streichorchester. Eigentlich sei der Text nur eine Erklärung der physikalischen Tatsache, dass wir in einem kosmischen System mit Erdanziehungskraft leben, sagte der Komponist einmal in einem Interview. Doch der Tonfall macht die Musik und jener ist überaus dramatisch. »Im Hexameter-Rhythmus gelesen entfaltet dieser gewaltige Wortschwall eine so kraftvolle Poesie, die etwas Apokalyptisches hat«, so Furrer.
In »Spazio immergente III« versteht man Lukrez’ Worte nicht, selbst wenn man Latein beherrscht. Der Komponist behandelt Text als Klang. Die lateinische Sprache, reich an Vokabeln, eignet sich hervorragend, um mit den Übergängen von Sprache zu Instrumentalklang zu experimentieren. Die Ausdeutung des Textes findet eher auf einer metaphorischen Ebene statt. Die Posaune verkörpert das Endzeitliche und lässt die menschliche Stimme verletzlich erscheinen.
Im Dialog mit ihr bewegt sich das Instrument aber ebenso anmutig, Grenzen werden infrage gestellt. Das Zusammenspiel erscheint wie ein undurchschaubares, fragiles Gleichgewicht unendlich vieler Musikatome. Gleichzeitig driften die Dialogpartner auseinander, Furrer fächert die Klänge auf in zahl- reiche Räume und entzieht dem Hörer den Boden unter den Füßen. Das Streichorchester eröffnet durch harmonische Ergänzung zusätzliche Dimensionen, ergänzt die beiden Melodiestimmen, fungiert als Mittler ebenso wie als Graben dazwischen.
Die nur hypothetisch skizzierte Apokalypse bei Lukrez findet in Furrers Musik tatsächlich statt. Das Weltgebäude, das durch universale Kräfte gestürzt wird, bricht zusammen. Der Mensch, verkörpert durch die Stimme, ist dem hilflos ausgesetzt.
Der Aufruhr im Text äußert sich bei Furrer in Beschleunigung und im Auseinanderfallen der Klänge, im Zerfall der Worte in Teilstücke und Silben. »Ich liebe Dramatik«, sagt der Komponist. Dennoch brüllt seine Musik nicht, sie ist nicht gewalttätig, nicht wuchtig. Furrer liebt das Filigrane, das Durchsichtige, das Leise. Seine Musik ist unvorhersehbar, energetisch, entwicklungsreich, ständig in Bewegung. Selbst in der Stille kreiert er große Spannung. Wie bei einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch sammelt sich die Energie in den stillen Pausen, ebenso in seinen zarten, aber unerbittlich rhythmischen Klängen.
Am Ende von »Spazio immergente III« ist das Wort zerfallen, verschwunden im Unendlichen. Ein leerer Raum öffnet sich. Das Ende der Welt oder die Tür zu einer anderen Möglichkeit? Auch ein anderer Komponist löste sich über ein- hundert Jahre früher in Gedanken von der Erde, machte sich auf die Suche nach neuen Möglichkeiten im Universum der Töne. Sehr zum Missfallen seiner Zuhörer.
Dieser Text von Maria Gnann ist ein Originalbeitrag für das Programmheft der resonanzen fünf »bruch«.