Thilo Braun über Musik von Galina Ustwolskaja
Wie eine glühende Nadel bohrt sich der Spitzenton der Piccoloflöte ins Trommelfell. »Dona Nobis Pacem« steht oben auf der Partitur, doch selten wirkte der Frieden so fern. Teuflisch brazzt eine Tuba. Das Klavier schlägt zu: Stählerne Cluster in der Tiefe, voll in die Magengrube. Welch ein Schmerz, welch eine Wut gebären solche Klänge?
Als Galina Ustwolskaya 1919 in Petrograd zur Welt kommt, versinkt Russland im Bürgerkrieg. Fast zehn Millionen Zivilisten sterben, bevor Lenins Rote Armee den Sieg erringt. Aus Petrograd wird Leningrad, dann zieht der zweite Weltkrieg herauf und mit ihm eine der schlimmsten Belagerungen der Neuzeit. Drei lange Winter umstellen Nazis die Stadt, über eine Millionen Menschen sterben, erst Januar 1944 gelingt die Befrei- ung.
Galina Ustwolskaja beginnt 1939 mit einem Kompositionsstudium. Ihr Lehrer ist Dmitri Schostakowitsch, der zwei Jahr zuvor eine Stelle am Leningrader Konservatorium angenommen hat. Nach den Verleumdungen um seine Oper Lady Macbeth von Mzensk hat Schostakowitsch zunächst Schwierigkeiten, Werke zur Aufführung zu bringen. Die Lehrtätigkeit gibt ihm in dieser Zeit neuen Halt und finanzielle Sicherheit. Schostako- witsch hat Galina Ustwolskaja als sein »musikalisches Gewissen« bezeichnet. Er schätzte ihre Kompromisslosigkeit in künstlerischen Fragen, bewunderte ihre eigensinnige Tonsprache, verliebte sich in ihre Schönheit. Auf Fotos dieser Zeit strahlt Ustwolskaja wie ein Engel: Zartweiche Wangen, apollinische Augen, mildes Lächeln. Was für ein Kontrast zur Musik dieser Frau!
So stark die Zuneigung Schostakowitschs für Galina Ustwolskaja war, so hart ist das Urteil, das sie später über ihren Lehrer fällte: »Die scheinbar herausragende Figur Schostakowitsch war für mich nicht herausragend. Im Gegenteil: Sie wurde zur Last und hat meine tiefsten Empfindungen zerstört.« Ob es einen Zwischenfall zwischen Lehrer und Schülerin gab, der solche Worte erklärt? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass Ustwolskaja alle Werke ihrer Studienzeit vernichtet hat. Mit einer Ausnahme: Das Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauke, vollendet 1947, im letzten Jahr am Konservatorium.
Das Konzert ist zugleich das erste Werk, welches Ustwolskaja von sich gelten ließ, bis zur Uraufführung verstreichen noch einmal zwanzig Jahre. Bis zu ihrem Tod im Jahr 2006 hat sie nur 25 Werke freigegeben, viele davon »reifen« über Jahrzehnte in der Schublade, bevor sie zur Aufführung gelangen.
Einerseits, weil unter dem Diktat des sozialistischen Realismus jede Form von Komplexität als Verrat an der Volksnähe galt – Ustwolskajas Werke hätten öffentlich kaum gespielt werden können. An den spärlichen Veröffentlichungen trägt aber auch ihr Perfektionismus Schuld. Man kann Ustwolskaja in gewisser Weise als Antipode Schostakowitschs betrachten. Während er in Windeseile komponieren konnte, ringt Ustwolskaja um jede Note. Schostakowitsch begegnet künstlerischer Zensur mit Ironie und vermeintlichem Gehorsam. Ustwolskaja flieht vor ihr in die innere Emigration.
Lieber verschanzt sie sich in ihrer Wohnung, unbeachtet und vergessen, als ihre künstlerische Freiheit aufzugeben. Ob ihre späte Abneigung gegenüber Schostakowitsch auch darin wurzelt? Seine widersprüchliche Haltung zur Partei – versteckte Kritik einerseits, Anbiederung andererseits – musste einer Puristin wie Ustwolskaja als Verrat erscheinen.
Auch wenn Ustwolskaja jeden Einfluss ihres Lehrers abgestritten hat, erinnert manches in ihrem Konzert für Klavier, Streichorchester und Pauke an Schostakowitsch: Bittere Melancholie steht neben teuflischer Raserei, auch Ustwolskaja nutzt alte Schablonen wie Fuge und Kontrapunkt, füllt sie mit wüsten, dissonanten Farben der Moderne. Die Musik vermittelt eine Kompromisslosigkeit und Härte, die charakteristisch für Ustwolskajas Schaffen ist. Solist und Orchester spielen über weite Strecken mehr aneinander vorbei als miteinander vereint, in zunehmender Rücksichtslosigkeit, als würden alle Parteien, weil sich niemand mehr versteht, immer lauter schreien. Vollends zur Groteske gerät der Schluss, wenn in militärischer Perfektion eine stupide C-Dur-Kadenz von Klavier und Orchester erklingt, in endloser Wiederholung, wie ein Jubel unter Zwang.
Die Abschottung von der Außenwelt verändert auch die Musik Galina Ustwolskajas. Inspiration kommt nicht länger von anderen Komponisten, sondern aus der Natur und einer Art meditativem Grübeln. In einem Park im Süden von St. Petersburg sitzt sie stundenlang am Ufer eines Teichs, komponiert »in Gedanken«, umgeben von blassen Birkenstämmen und sumpfigem Grün. Die Befreiung jedweder Konventionen zeigt sich auch in ihrem Notenbild: ab dem Ende der 1940er Jahre verzichtet Ustwolskaja auf Taktstriche in ihren Partituren, Reduktion wird zum alles beherrschenden Prinzip. Eine melodische oder harmonische Struktur ist ebenfalls selten, jeder Ton erscheint gleich wichtig.
Ihr »Dona nobis pacem« ist in den frühen 70ern entstanden. Die Besetzung ist ungewöhnlich: Tuba, Klavier und Piccoloflöte, das tiefste Blechblasinstrument vereint mit dem höchsten aus Holz. Dazwischen das Klavier als Chamäleon; ein Melodie- und Rhythmusgeber in einem, mit grollender Härte, samtiger Wärme.
Es tobt ein Kampf zwischen Welten: hoch gegen tief, grell gegen dumpf, lautbrüllend gegen flüsterleise. Als wolle sie die Bedeutung jedes einzelnen Tons unterstreichen, schreibt Ustwolskaja immer wieder »espressivo« in die Partitur. Diese Töne sind verdichteter Schmerz. Sie wollen nicht gefallen, sondern wirken. »Meine Werke sind nicht religiös, aber definitiv spirituell«, hat Ustwolskaja gesagt. »Weil ich alles von mir gegeben habe. Meine Seele, mein Herz.«
Der Text ist ein Originalbeitrag für das Programmheft des Konzerts.