Thilo Braun über das erste Klavierkonzert von Dmitri Schostakowitsch
Dieses Werk ist ein Bürgerschreck. Es riecht nach Rosen und Schwefel, serviert Kuchen mit Senf, trägt eine Federboa am Soldatenhelm. Nichts passt zusammen in diesem Klavierkonzert. Und genau das macht es so raffiniert.
Dmitri Schostakowitsch treibt ein Spiel mit dem kollektiven Gedächtnis seiner Hörer. Er zitiert Stile und Werke aus mehreren Jahrhunderten Musikgeschichte, setzt sich aber schelmisch über jede Form und Regel hinweg. Beginnt das Klavier zu träumen (Chopin wäre entzückt), grätschen Streicher und Trompete mit einem Militärmarsch dazwischen. Auf üppigen Streicherpathos (Wagner!) antwortet das Klavier mit primitivem Ragtime.
26 Jahre jung ist Dmitri Schostakowitsch als er sein erstes Klavierkonzert schreibt. Er hat gerade seine zweite Oper Lady Macbeth von Mzensk vollendet und ist dabei, zu einem der berühmtesten Komponisten des Landes aufzusteigen. Nach der triumphalen Uraufführung in Leningrad bringen Opernhäuer auf der ganzen Welt das erotisch-satirische Werk auf die Bühne, unter anderem in Buenos Aires, Zürich, New York. Die Musik des ehrgeizigen Jungspunds polarisiert.
Scheinbar mühelos vereint Schostakowitsch symphonische Klänge mit Volksmusik und drastischer Klangmalerei, der Dirigent der Uraufführung schwärmt von Lady Macbeth von Mzensk gar als Meisterwerk »das alles überschattet, was in dieser Hinsicht im Westen geschaffen wurde«. Ein New Yorker Journalist bekrittelt dagegen eine »Zusammenstellung billiger Tricks, voll von Reminiszenzen, ohne Originalität oder schöpferische Kraft«.
Ähnlich ließe sich auch über das Klavierkonzert urteilen, denn die musikalischen Mittel sind im Grunde plakativ: Vereinigung des Unvereinbaren. Und doch gelingt die Überraschung! Denn Schostakowitsch weiß aus seiner Zeit als Stummfilmpianist: Auch ein einfacher Effekt kann große Wirkung entfalten, solange das Timing stimmt.
Im ersten Satz, nach einem kurzen Tusch (Vorhang auf!), spielt das Klavier einen punktierten Moll-Drei- klang abwärts: Ja-ta-taaa. Die kulturkundigen Leningrader werden sofort erkannt haben: Schostakowitsch zitiert Beethovens »Appassionata«, die Klaviersonate op.57. Nur führt die Melodie (anders als bei Beethoven) nirgendwo hin, weder harmonisch noch melodisch. Streicher imitieren, versuchen das Material tragisch einzutrüben, da plappert das Klavier schon wieder dazwischen, mit einer übermütigen Variation. Die Rache folgt prompt: Streicher säbeln einen stupiden Militärmarsch herunter, nach drei Takten verendet er in einem Schusswechsel kurzer Motive mit dem Klavier. Dann: Einsatz der Solotrompete, sie pfeift eine naive Melodie, Streicherzupfen dazu.
Erst im zweiten Satz kehrt Ruhe ein. Die Geigen spielen eine geheimnisvolle Melodie über dem Nebel tiefer Streicher. Mit ungeahnter Sanftmut setzt das Klavier ein: spielerische Figuren, träumerisch tastend. Die Kadenz in der Mitte des Satzes wirkt wie ein Aufbäumen. Als wolle das Klavier der Melancholie entfliehen, durch harte, motivische Arbeit. Vorerst jedoch siegt das Träumen. In schönstem Strahlen hebt die Trompete zu einem Gesang an, getragen von zärtlichen Streichern – letztes Innehalten vor dem Endspurt. Im letzten Satz treibt Schostakowitsch das Verwirrspiel auf die Spitze, durch stolpernde Metrik, harsche Harmoniewechsel, tollkühne Tempi. Das Publikum der Uraufführung ist davon so überrumpelt, dass es spontan in Lachen ausbricht. Die Pointe sitzt.
Auf den Höhenflug Schostakowitschs folgt im Jahr 1936 der Absturz. Josef Stalin besucht eine Aufführung seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk, anschließend erscheint unter dem Titel »Chaos statt Musik« ein vernichtender Verriss in der Parteizeitung Prawda. Von einem Tag auf den anderen wird Schostakowitschs Musik vom Aushängeschild sowjetischer Kunst zur Gefahr für Volk und Vaterland erklärt. Schostakowitsch ist am Boden zerstört. In der Stalindiktatur war ein solches Urteil lebensbedrohlich, zudem war er schockiert, wie viele vermeintliche Freunde ihn im Zuge einer langen, hässlichen Schmutzkampagne verleumdeten.
Im Laufe seines Lebens sollte der politische Terror immer tiefere Wunden hinterlassen – auch in der Musik. An Stelle der Heiterkeit tritt Hoffnungslosigkeit, nicht selten auch zynische Groteske. »Ich möchte das Recht auf Lachen in der so genannten ›Ernsten Musik‹ verteidigen«, hatte er nach der Uraufführung noch über sein Klavierkonzert geschrieben. Das sorglose Lachen ist ihm unter Stalin vergangen.
Der Text ist ein Originalbeitrag für das Programmheft des Konzerts.