Thilo Braun über Ligetis »Mysteries of the macabre«
Eine Anti-Anti-Oper sei Györgi Ligetis »Le Grand Macabre«. So kann man überall lesen. Was das eigentlich ist, erfährt man dabei selten, die Sache ist nämlich vertrackt. Sollten Sie gerade im Konzert sitzen, klappen Sie das Heft besser zu – lassen Sie sich erst von Ligetis Musik in den Wahnsinn treiben und suchen Sie danach erste Hilfe im folgenden Text.
Fangen wir mit Mauricio Kagel an, Komponist und enfant terrible der Avantgarde nach dem Krieg. Drei Jahre bevor Ligetis seine Oper komponiert, bringt Kagel 1971 in Hamburg sein Werk »Staatstheater« auf die Bühne, eine dadaistische Performance als Antwort auf den starren und verkrusteten Opernapparat. Eine Anti-Oper. Ligeti fügt nun noch ein »Anti« hinzu. Jetzt wird es verwirrend. Eine Verneinung der Verneinung der Oper – ist das nicht einfach: eine Oper?
Wir können uns »Le Grand Macabre« vorstellen wie einen mehrfach belichteten Film. Vor der Linse ist die Realität. Das konventionelle Theater (oder die Oper) versucht, diese abzubilden und knipst stilisierte Bilder für die Bühne. Dann kommt Kagel, knipst nochmal, und entlarvt das Bild als Klischee (Antioper). Ligeti arbeitet schließlich selbstironisch mit der aus der Entlarvung entsprungenen Karikatur des Klischees. Voila: eine Anti-Anti-Oper.
Ligeti hält mit »Le Grand Macabre« sowohl der Gesellschaft als auch dem Opernbetrieb den Spiegel vor – und zeigt dem Krawallmacher Kagel zugleich, dass die alte Dame Oper noch lange nicht ausgedient hat. Die Handlung (nach Michel de Ghelderode) ist eine Satire. Aus einem Sarg steigt Nekrotzar (von dem niemand weiß ob er der personifizierte Tod oder ein Schwätzer ist) und prophezeit den Weltuntergang. Er macht sich den Alkoholiker Piet vom Fass zum Sklaven und reitet auf ihm in die Stadt. Die Turteltäubchen Armando und Amanda nutzten die Gunst der Stunde und frönen im offenen Grab ihrer Liebeslust. Es gibt einen infantilen Diktator Go-Go (der nur ans Essen denkt), und den Chef seiner Geheimpolizei Gepopo, er leidet unter Verfolgungswahn. Am Ende verpennt Nekrotzar nach einem Saufgelage den angekündigten Weltuntergang und kriecht beschämt in seine Gruft zurück.
Das Arrangement »Mysteries of the Macabre«, das Sie in diesem Konzert hören können, basiert auf drei Arien von Gepopo. Der Dirigent der Uraufführung Elgar Howarth hat sie eingerichtet »für Koloratursopran oder Solo-Trompete«. Wieso oder? So könnte man fragen. Denn eine Arie ohne Sänger erscheint doch seltsam. Bei Ligeti klappt das aber ausnahmsweise. Die Sängerinnen und Sänger seiner Oper müssen nämlich ohnehin jede Menge Kauderwelsch von sich geben: Dada-Gestammel, hohle Phrasen, falsches Latein. Wichtiger als der Text ist die Frage, wie kommuniziert wird.
Den Chef der Geheimpolizei Gepopo etwa zeichnet Ligeti als Wichtigtuer einerseits, unter Verfolgungswahn leidenden Psychopathen andererseits. Er hat einen Hang dazu, entweder Befehle zu brüllen (»Marsch zum Palast!«) oder Geheimbotschaften zu flüstern, die außer ihm natürlich niemand versteht (man beachte die langen Kunstpausen!). Wie Sie im Konzert hören werden (oder gehört haben), kann die Trompete beides wunderbar: Schmettern wie Flüstern.
Zudem sind die Musiker bei Ligeti auch Sprechende. Ensemble und Solist zischen sich zu Beginn gegenseitig »Psssst!« zu, am Ende zählen die Musiker einen (falschen) Countdown bis zum (vermeintlichen) Weltuntergang. Wunderbar gelingt es Ligeti, den aufkeimenden Wahnsinn musikalisch zu zeichnen. Immer wirrer wechseln Taktarten und Töne, immer schneller Schreien und Flüstern. Für die Interpreten bedeutet das eine enorme Herausforderung – besondere Aufmerksamkeit verdienen die beiden Schlagzeuger. Sie müssen neben Pauke, Schellen, Xylophon, großer und kleiner Trommel auch ungewöhnliche Instrumente bearbeiten, etwa ein »Blatt festes Packpapier« zerreißen, in eine Trillerpfeife pusten oder auf einen Holzblock hauen.
Ligeti entlarvt die Phrasendrescher unserer Welt, bricht Hysterie mit Ironie. Er nimmt das Musiktheater als Spiegel der Gesellschaft ernst, ohne seinen Wahrheitsgehalt zu überschätzen. Weil wir die Chöre der (Un-)Heilsverkünder nur zu gut aus unserem Alltag kennen, funktioniert das Spiel auch ohne Sänger.
Der Text ist ein Originalbeitrag für das Programmheft des Konzerts.