Patrick Hahn über »Hauch«
Wie mag es sich anfühlen, vom Heiligen Geist berührt zu werden? Die Vorstellung, tanzende Flammen auf dem Kopf zu haben, wie in manchen bildlichen Darstellungen, ist eher unangenehm. Ikonographisch schwer darstellbar, aber als Metapher sehr wirksam, ist das Bild des »Hauchs«. Die Berührung durch den Lufthauch, den Wind, den Atem, ist ein einprägsames Bild für die Berührung mit einem per definitionem unberührbaren Gegenstand. Die Komponistin Rebecca Saunders ist eher unverdächtig, sich zu sehr mit metaphysischen oder naturwissenschaftlichen Phänomenen aufzuhalten. Ihre Musik entsteht häufig aus der Beschäftigung mit Literatur, namentlich der von Samuel Beckett. Derek Jarmans Überlegungen zur Farbe haben eine Vielzahl von Werken angeregt, die im Zyklus Chroma kulminieren. Was alle ihre Werke eint, ist der Umgang mit Stille. Aber nicht Stille begriffen als Musik, sondern als deren Voraussetzung. »Stille ist wie die Leinwand hinter dem Klang«, schreibt Saunders. »Sie rahmt den Klang«. Dies ist besonders spürbar auch in ihren Werken für Streicher, die ihren Ton aus vielen verschiedenen Schattierungen des Nichts herauswachsen lassen können, die Waage halten zwischen Schon-Stille und Noch-Musik und umgekehrt. Durch ihre Verwendung von Flageolett-Tönen wird der Klang brüchig, instabil, verschleiert. Zugleich nutzt Saunders die Möglichkeiten, mit Hilfe von wechselnden Bogengeschwindigkeiten, der Gestik von Auf- und Abstrich, neue Klangbilder zu evozieren, in denen Energiefelder sich aufladen und schließlich explosionsartig entladen. »Der Klang ist fragil, aber auch aggressiv und belastbar«, schreibt der Musikwissenschaftler Björn Gottstein über Rebecca Saunders: »Ein solcher Klang, der bereits einen Widerspruch in sich trägt, ist vielleicht die sinnfälligste Veranschaulichung der saundersschen Dialektik, aus der heraus sich ihr ganzer Klangkosmos fassen lässt.« Neben ihrem Violinkonzert still, hat die 2019 mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnete Künstlerin vor Kurzem mit Hauch ein kurzes Solostück komponiert, das im Joseph Joachim Violinwettbewerb als Pflichtstück auf dem Programm stand. Saunders spielt selbst auch Violine und sie hat »ihrem Instrument« hier neue, extreme Nuancen abgelauscht: Der Bogen zieht den Klang aus der Stille; die geringste Veränderung der Berührung der Saite, die Ausdehnung der Muskeln zwischen den Schulterblättern, das Einatmen des Spielers, das dem gespielten Ton vorangeht... Der fehlbare menschliche Körper hinter dem Klang: das Gewicht des Klangs fühlen, indem man das Wesen einer Klangfarbe erkundet.« Der Umstand, dass sich das Wort Hauch nicht mit einem genauen Begriff in die Muttersprache von Rebecca Saunders, das Englische, übertragen lässt, verleiht dem Titel selbst jene Aura, deren Schimmer Rebecca Saunders hier zu fassen sucht.