Maria Gnann über Mark Andres »rwḥ 1«
Das Spiel mit kryptischen Titeln gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen des Komponisten. Meist nutzt er kurze, kaum entzifferbare »Wörter«, oft sind es deutsche Präpositionen und Konjunktionen, die den gebürtigen Franzosen besonders faszinieren. Darüber hinaus bezieht sich der gläubige Protestant gerne auf konkrete biblische Verse, denen die Titel fragmentiert entnommen sind.
Mit rwḥ 1 meint der 55-Jährige also das aramäische Wort, das Jesus von Nazareth auch während der Abschiedsreden im Johannes-Evangelium artikuliert. Bereits verstorben, auferstanden, aber noch nicht »aufgefahren in den Himmel« erscheint er zu jener Zeit seinen Jüngern und verspricht, dass Gott ihnen einen »andern Tröster« entsenden wird, der ewig bei ihnen bleiben wird: den »Geist der Wahrheit«. An einer ähnlichen Stelle bläst Jesus seine Jünger direkt an und sagt: »Nehmet hin den Heiligen Geist!«
Den »Heiligen Atem« lässt Andre auch in seinem Werk mehrmals konkret erfahrbar machen, indem er die Streicher auffordert, rhythmisch ein- und auszuatmen, tonlos auf den Vokalen »o« und »a« – vielleicht ein bewusstes Fragmentieren des ausgesprochenen Wortes »rwḥ«? Zudem lässt er den Akkordeonisten mit Hilfe des Luftknopfes seines Instruments zahlreiche Geräusche produzieren, die sich als Atemstrom interpretieren lassen. Mal fließende, mal pulsierende Luft pumpt er aus seinem Instrument, zum Beispiel indem er den Bellowshake anwendet, das Schütteln des Blasebalgs vom Akkordeon.
Dem Werk scheint der Komponist bewusst das Körperliche genommen zu haben. Durchsichtige Klänge, hohe Lagen – geisterhaft fiept es im Orchester, auch durch das Waterphone, ein Perkussionsinstrument, das normalerweise in Filmen Musik zu Horrorszenen beisteuert. Bezieht man die Klänge auf die neutestamentlichen Abschiedsreden, lässt dies über Jesus’ Gestalt grübeln. Er wird von niemandem, dem er sich nach seiner Auferstehung zeigt, erkannt, ehe er sich selbst zu erkennen gibt. Und wie ein Gespenst »Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch!«. Für einen gewissen Metazustand spricht auch, dass der Gottessohn Maria von Magdala verbietet, ihn anzufassen: »Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater.« Jesus taucht in der Phase zwischen Tod und Himmelauffahrt wie aus dem Nichts auf und verschwindet wieder, als wäre er selbst ein Geist. Das erste Mal entwischt er aus seinem Grab, wo ihn Maria von Magdala nicht mehr auffinden kann. Und jedes Mal nachdem er sich seinen Jüngern als Auferstandener offenbart hat, verflüchtigt er sich erneut, bevor er schließlich »in den Himmel auffährt«.
»Kompositorische und transzendentale Erlebnisse sowie Zwischenräume lassen sich durch das Beobachten und das Zur-Beobachtung-Stellen von Musik vor dem Verschwinden, während des Verschwindens und nach dem Verschwinden erfahren«, schreibt Andre über sein Werk. Zu einer spirituellen Erfahrung lädt der Komponist ein, indem er dazu auffordert, Zeuge verschiedenster Momente des Verschwindens und der daraus entstehenden Zwischenräume zu werden. Alle decrescendi verrinnen im »NICHTS« und alle crescendi sollen daraus entstehen. Zwischenräume werden musikalisch freigesetzt durch abrupte dynamische Wechsel, Glissandi, Arpeggi und chromatische Cluster. Einen intensiven Moment kreieren auch die Kontrabassisten, wenn sie, mehr als eine Minute lang, während des Spielens eine Saite tiefer stimmen und dadurch den Raum zwischen zwei Tönen besonders ausleuchten.
Klanglich orientiert sich Andres Musik stets an der Abbruchkante von Ton und Geräusch. Als ein Meister des Fragilen notiert er, vor allem für die Streicher, Flageolettes, die auseinanderbrechen sollen, und lässt Musikerinnen und Musiker nach morschen Klanggestalten suchen, die unkontrollierbare Zwischenräume erfahrbar machen. Die große Trommel wird mit einem Alu-Blatt beklebt – wer mit dem Handballen auf dem Fell wischt, erzeugt extrem instabile Klänge – und der Komponist fordert ein präpariertes Klavier, das »granulierte« Klanggestalten hörbar machen soll. Im »Nichts«, der Zeit nach dem Verschwinden, lässt sich die Präsenz des vorher Dagewesenen besonders spüren. Raum für musikalische Reflektion schafft Andre daher mit ellenlangen Generalpausen.
Die Elektronik verstärkt die Auseinandersetzung mit verschwindenden Klängen. Hierfür nutzt Andre Orgeltöne, die verhallen bis ins Nichts, aufgenommen in der Hamburger Kirche St. Katharina. Auch alle Tonhöhen, die der Komponist in rwḥ 1 verwendet, hat er aus dortigen Messungen abgeleitet, mittels Echographie der Akustik in der Kirche. Diesen hellen, schlichten Raum mit den hohen Säulen schmückt ein bronzener Altar, der äußerst gut zu Andres Werk passt: Er bildet die Ausgießung des Heiligen Geistes ab, die Entdeckung des leeren Grabes, den ungläubigen Thomas und das Brotbrechen von Emmaus – zwei Szenen, in denen Jesus seinen Jüngern als Auferstandener erscheint.
Geräuschhafte Tremoli, Tastenklappern, acht unterschiedlich schnelle Vibrationsarten und schnelle bis extrem schnelle Triller beschreiben den Zwischenzustand als ein Zittern, das auch auf den Menschen bezogen werden kann, der sich nach christlichem Glauben nach dem Tod möglicherweise ebenfalls in einem Zwischenraum befindet. Gestorben ist er. Was kommt dann?
Mark Andres rwḥ 1 endet im Ungewissen. Bitonal unentschlossen flattern C-Dur und D-Dur-Arpeggien durch die Streicher, ein wahnsinnig leises Flimmern und Säuseln, das sich zwar dem tonalen Zentrum »c« nähert, aber am Ende nur den C-Dur-Sextakkord gestattet. Einem Sextakkord wohnt stets etwas Schwebendes inne, oft eröffnet er gar ein Werk, ein richtiger Abschluss ist das kaum. Das schwebende Element verschärfen die Kontrabässe, die beide ein kaum hörbares, extrem tiefes, instabiles »e« knarzen; das eine einen Tick höher und das andere ein bisschen tiefer intoniert. Dadurch lösen sie eine unreine Stimmung, eine Schwingung aus – Sinnbild für den Schwebezustand. Dann kehrt eine Minute Stille ein. »Hilf, Jesu, hilf...«, lautet Andres Endnotiz unter der Partitur.