Maria Gnann über Beethovens 4. Klavierkonzert
Und plötzlich schimmert da ein Lichtstrahl in G-Dur. Zart und dolce setzt allein der Pianist an und grübelt sich in Richtung H-Dur, eröffnet ohne jegliches Spektakel das Werk. Versonnen, entrückt – sensationell. Niemals zuvor hatte ein Klavierkonzert ohne Orchestervorspiel direkt mit einem Solo des Klaviers begonnen. Aber Beethoven tat es, als er am 22. Dezember 1808 der Wiener Öffentlichkeit mit seinem Vierten Klavierkonzert den Kopf verdrehte. Sein Komponistenkollege Johann Friedrich Reichardt schrieb anschließend: »Beethoven sang wahrhaft auf seinem Instrument mit tiefem melancholischem Gefühl, das auch mich dabei durchströmte.«
Für die Zeitgenossen um 1800 war Beethovens Zugriff auf das Klavierkonzert revolutionär. Er suchte als erster Künstler nach Formen, in denen er seinen Ideen Gestalt geben konnte. In diesem Sinne war er ein »freier«, ein emanzipierter Komponist. Im wahrsten Sinne des Wortes »beherrschte« er seine Kunst und verwirklichte im Bereich der Musik das, was angesagt war zu seiner Zeit: »allein Freyheit, und weiter gehen ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen Schöpfung, zweck«, schreibt Beethoven noch Jahre später, ganz im Geist der napoleonischen Ära.
Frei gestaltete Beethoven auch den Solopart bei seiner ersten öffentlichen Aufführung des Vierten Klavierkonzerts. Dem im Theater an der Wien anwesenden Komponisten Carl Czerny zufolge spielte er das Konzert sehr »muthwillig« und brachte »bei Passagen viel mehr Noten« an, »als da standen«. Das wusste Czerny, weil die Partitur bereits vier Monate zuvor veröffentlicht worden war.
Von Beethovens Nachbearbeitungen hierfür gibt es heute nur eine Spur: Eine handschriftliche Partitur eines professionellen Kopisten zur Vorbereitung der Originalausgabe, die Beethovens Autografkorrekturen und Anmerkungen enthält. Interessant sind ausschließlich die Notizen in Bezug auf die Solo-Klavierstimme, die der Komponist in brauner Tinte, Rotstift und Bleistift in etwa 100 Takte kritzelte. Sie sind nur im ersten und letzten Satz vorhanden. Da Beethoven die Anmerkungen wahrscheinlich für seinen persönlichen Gebrauch geschrieben hat, notierte er sie offensichtlich teilweise in großer Eile, was das Lesen ziemlich kompliziert macht.
Nun hat sich Riccardo Minasi diesen Skizzen angenommen. Dank einer hochauflösenden Farbreproduktion des Manuskripts konnte er Elemente entziffern, die noch nie zuvor entschlüsselt worden sind. Minasi hält es für sehr wahrscheinlich, dass die Verzierungen und Notizen für Beethoven selbst bestimmt waren, ziemlich sicher für die öffentliche Erstaufführung, was sich mit Czernys Beschreibungen von Beethovens Spiel decken würde. Denn die Zusätze ergeben eine Werkgestalt, die noch abwechslungsreicher, detaillierter, prickelnder und verfeinert daherkommt.
Minasi schreibt, es sei an der Zeit, das große Potenzial dieser Änderungen vorzustellen. Nicht nur, dass sie eine virtuosere und raffiniertere Lektüre vorschlagen als die Version, die wir alle kennen. Möglicherweise kommen auch sie dem sehr nahe, was Beethoven selbst im Dezember 1808 gespielt hat.
Ludwig van Beethoven war zu jener Zeit 38 Jahre alt und ein voll etablierter Komponist. Er spielte seine Werke auf den Bühnen seines Wohnorts Wien, aber auch in ganz Europa und galt als neuer, unvergleichlicher Meister der Instrumentalmusik. Lewis Lockwood vergleicht die bedeutenden künstlerischen Leistungen mit den damaligen Siegen Napoleons: Beethoven »übernahm die Herrschaft der zeitgenössischen musikalischen Welt und erfuhr eine gewaltige Resonanz«, schreibt der US-amerikanische Musikwissenschaftler.
Obwohl Beethoven damals bereits zunehmend schlecht hörte, strotzte er vor Selbstsicherheit. Vorbei war das Ringen um seine Dritte Sinfonie, die »Eroica«, entspannt konnte er 1805/06 sein Viertes Klavierkonzert komponieren. Darin schlug er einen lyrischen Ton an. Als improvisierender Pianist experimentierte er mit neuen Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks. Warum also nicht ein Klavierkonzert quasi improvisierend beginnen?
Anstatt sich auf die Tasten zu stürzen und den Solisten heraushängen zu lassen, beginnt Beethoven im Vierten Klavierkonzertentgegen jeglicher Konventionen seinen stillen, philosophischen Prolog. Kurz darauf nimmt das Orchester die Geste auf und spinnt sie weiter, stupst einen Dialog an, der sich als elementares Element durch das ganze Werk ziehen wird. Meist geht die Klavierstimme in ihren Solopassagen zunächst auf die Themen des Orchesters ein, aber schon nach kurzer Zeit löst sie sich, umspielt sie auf hinreißende Weise, in schnellen Stimmungs- und Tempiwechseln, mit fliegenden Läufen, kecken Vorhalten und glitzernden Triolen – wie ein Kind, das versucht, sich auf eine vorgegebene Sache zu konzentrieren, dann aber wieder seiner freien Fantasie Lauf lässt. Nur, dass sie bei Beethoven auf wundersame Weise trotzdem ins Formschemata und zu den Themen der Streicher passt. Traumwandlerisch muss der Pianist agieren und doch ganz bei sich selbst sein. Der Charakter des Orchesters wirkt dagegen oft ernster, bedächtiger. Es spielt mit dunklem Timbre, nicht unfreundlich, eher besonnen. Wie ein Schicksal, das parallel zum Individuum – in diesem Falle das Klavier – existiert, es aber nicht bezwingen kann. Zumindest noch nicht. Denn was zum Teufel passiert im zweiten Satz?
Ohne Vorwarnung greifen die Streicher die Klavierstimme an, in tiefer Lage, unisono resolut vereint, mit zornig-zackigem Motiv. Und wie reagiert das Klavier? Nach einer spannungsgeladenen Pause antwortet es seelenruhig, ja direkt feierlich mit weit geschwungener Legato-Linie. Molto cantabile.
Robert Schumann nannte den zweiten Satz das »groß-geheimnisvolle Adagio«. Das passt. Obwohl der Satz eigentlich Andante heißt und erschreckend kurz ist. Aber er wirkt so dramatisch, der Gegensatz zwischen Streichern und Pianist so krass und plastisch, dass er nach einem poetischen Programm geradezu schreit – und zu Spekulationen inspiriert. Im 19. Jahrhundert hörten Beethovens Bewunderer in diesem Satz die Sage des Orpheus klingen, nach der der Sänger in die Unterwelt hinabsteigt, um seine Frau, die Nymphe Eurydike, zu retten und die dortigen Furien mit seiner Lyra besänftigt. Seine Kunst lässt den Höllenhund verstummen und der Rachen des Todes speit die Liebenden aus – allerdings darf sich der kühne Sänger beim Aufstieg in die Oberwelt nicht zu seiner Frau umdrehen. Genau das passiert jedoch und Orpheus verliert sie endgültig an die Unterwelt.
Tatsächlich gestaltet Beethoven, der Feuerkopf, den Satz als einen regelrechten Dialog zwischen Klavierstimme und Streichersatz. Während die Streicher den Pianisten anfangs immer stärker bedrängen, zwingt sie der lyrisch-versunkene Klavierklang wie durch ein Wunder allmählich zum pianissimo, danach zu vereinzeltem Gezupfe, worüber der Pianist einen Monolog entfalten kann. Dann noch ein Schock: Aufruhr im Klavierpart, gekennzeichnet durch laute Triller in der rechten und schnelle, chromatisch Einwürfe mit Tritonus-Ambitus in der linken Hand. Schließlich dynamisches Absenken, übrig bleibt orientierungsloses Kreisen, das sich allmählich verlangsamt. Die Streicher setzen wieder ein, dieses Mal sehr leise, erinnern fragmentarisch an ihre anfänglichen Einwürfe, wobei das Klavier das letzte trübe Wort hat. Ende in tragisch-zartem e-Moll. Versöhnung oder Tod?
Obwohl dieser erstaunliche Satz eine beinahe opernhafte Szenerie entwirft und nach Auslegung lechzt, erklärt Beethoven kein poetisches Programm. Und er braucht es auch nicht. Der Komponist verwendet eine dermaßen charakteristisch ausgeformte »Rhetorik«, dass der Hörer seine Musiksprache auch ohne konkretes Sujet versteht.
Aber wie löst er das Hochdramatische des zweiten Satzes wieder auf?
Mit Witz! Die Streicher variieren das Material und pirschen sich attaca in das schnelle Rondo. Dann tanzt das Klavier los und das erste fortissimobricht hervor, der erste richtige Befreiungsschlag dieses Werks! Tutti und solo verbinden sich in diesem Satz auf neue Weise, die vormaligen Kontrahenten präsentieren eine starke Einheit, fordern sich höchstens noch neckend heraus. Ausgelassenheit und Triumph ist angesagt. Beethoven lässt erstmals die Pauken und Trompeten tönen – den aufkommenden heroischen Tonfall sabotiert der Komponist allerdings durch tänzerische Umspielungen.
Trotz Spiel, Spaß und Brillanz findet sich immer noch Platz für verträumtes Fantasieren. Beispielsweise im lyrischen Seitenthema, das – selbstverständlich – das Klavier vorstellt und dabei wie nebenbei das polyphone Spiel für sich entdeckt. Die Solostimme und ihr »Gegenüber«, das Orchester, sind zwar durch das Werk hindurch gereift und spielen sich die Bälle nun förmlich zu, ihre individuellen Ausprägungen dürfen sie aber dennoch behalten. Gemeinsam verströmen sie betörende Euphorie.
Das Heroische bedeutete für Beethoven auch, fähig zu sein, Schicksalsschläge zu verkraften. Und war das nicht der zweite Satz – ein Schicksalsschlag? Beethoven stellt einer vereinten, musikalisch ausgedrückten Kraft (Orchester) etwas Einzelnes, Andersartiges gegenüber, das einer solchen kollektiven »Gewalt« mit seinen Ausdrucksmitteln entgegenwirkt. Beethoven hat sich in diesem Werk das Triumphale, das Befreiende mit seiner übermenschlichen Entschlossenheit geradezu herbeifantasiert, ohne dabei die kompositorischen Regeln zu verletzen. Durch sein menschliches Wollen erringt er den Sieg der Freiheit.