Patrick Hahn über den internen musikalischen Prozess in Beethovens Fünfter und dessen zeitgeschichtliche Bezüge und Inspirationen
Hölderlins Schaffen lässt sich auch als Versuch be- greifen, den »Ur-Sprung«, den Riss zu heilen, den die Moderne im Subjekt hervorgerufen hat. Hölderlins Geschichtsvision ist dreigliedrig, wie der Schriftsteller und Verfasser eines hochspannenden Hölderlin-Essays Karl-Heinz Ott in einem Radiointerview skizziert: »Einst lebte man bei den alten Griechen – [...] er meint damit ein von ihm weitgehend erfundenes dionysisches Griechenland, in dem alles eine große symbiotische Einheit mit Natur und Mensch war, in pantheistischer Seligkeit. [...] Dann kommt die Götternacht, in der alles verfinstert wird, vor allem das Christentum. Aber was wiederkommt und wiederkommen soll, ist eine neue, herrliche Welt, die genauso schön ist wie bei den alten Griechen.«
Der Durchgang durch Nacht zum Licht – Beethoven hat ihn mit seiner Fünften Sinfonie exemplarisch ins Werk gesetzt. Und auch in der Rückbindung an die Natur findet sich eine Geistesverwandtschaft zwischen Hölderlin und Beethoven. Naturerfahrung ist der ausgewiesene Gegenstand von Beethovens Sechster Sinfonie, der Pastorale. In einer vor Kurzem erschienenen Beethoven-Monographie nimmt der Musikwissenschaftler Hans-Joachim Hinrichsen die parallele Entstehungsgeschichte der beiden Sinfonien und ihre gemeinsamen Uraufführung zum Anlass die beiden Werke auf ihre Bedeutung zu befragen und interpretiert sie im Lichte von Immanuel Kants Philosophie neu: »Die keineswegs harm- lose, musikalisch subtil durchgestaltete Pastorale entfaltet ein wahres Spektrum von philosophischen Ansichten der Natur. Ihr gedankliches Panorama ist undramatischer, aber ungleich weitgespannter als das vergleichbare der eng auf sie bezogenen 5. Sinfonie. Dass in dieser Letzteren das Programm gelingender sittlicher Selbstbehauptung zu überwältigender klingender Realität wird, verdankt sie ihrer schlüssigen strukturellen Organisation. Dass dieses Programm aber als eingebettet zu denken ist in den Sinnzusammenhang einer als zweckmäßig organisiert erscheinenden Natur, erweist sich erst in der ästhetischen Gesamterfahrung beider Werke. Ihre Tiefendimension erhalten sie in wechselseitiger Spiegelung.« Hinrichsen bietet mit seiner Deutung, die Beethovens Fünfte als klingende Verarbeitung von Kants Kritik der praktischen Vernunft und Beethovens Sechste als »Musik der ästhetisch-teleologischen Urteilskraft« betrachtet, eine Alternative zur volkstümlich gewordenen Deutung der Fünften als »Schicksalssinfonie«. Die Deutung geht maßgeblich zurück auf ein längst fragwürdig gewordenes Zitat, das von Beethovens beflissenem Biografen Anton Schindler überliefert ist, dass mit dem markanten Motiv der Fünften Sinfonie das Schicksal an die Pforte poche. Wenn das Zitat nicht wahr wäre, so hätte man es doch erfinden müssen, betont zwar der Musikwissenschaftler Martin Geck, der darauf hingewiesen hat, dass der von Beethoven verwendete Klopfrhythmus ein »musikalischer Topos des Erschreckens« sei. In brieflichen Äußerungen Beethovens liest man davon, dass er »dem Schicksal in den Rachen greifen« wolle. Doch liegt die anhaltende Wirkung von Beethovens Fünfter Sinfonie sicherlich nicht zuletzt darin begründet, wie sie die Überwindung des Schicksals vor Augen führt. Um das zu erreichen, riskiert Beethoven viel.
Für den Gang durch Nacht ans Licht gibt es durchaus bereits Vorbilder, nicht zuletzt in Haydns Oratorium Die Schöpfung, das zu Beginn den Weg aus dem Chaos ins göttliche Licht vor Augen führt. Neu ist nun, dass Beethoven diese Dramaturgie nicht nur über ein oder zwei Sätze hinweg durchführt, sondern über eine ganze Sinfonie hinweg. Und während frühere Werke Beethovens in c-Moll am Ende in der Düsternis verharren, gestaltet er hier deren Überwindung durch das Licht. »Bei Beethoven freilich, der anders als Haydn nicht den Schöpfer-Gott bemüht, tritt gewissermaßen der seiner moralischen Autonomie gewisse Mensch auf den Plan, als sei die ein musikalischer Ausfluss von Immanuel Kants revolutionärer neuer Moralphilosophie«, unterstreicht Hans-Joachim Hinrichsen. Wer die eingeführten Bauprinzipien der klassischen Sinfonik im ersten Satz nachzuweisen sucht, muss unweigerlich scheitern: Beethoven opfert sie der geradezu erdrückenden Wucht dieses aus einem einzigen Motiv gewonnenen Satzes – das sich zudem als zentraler Baustein für das ganze Werk erweisen wird. Ta-ta-ta- ta. Raum für einen lyrischen Nebengedanken bleibt kaum einmal. Er ist der Oboe zugewiesen, die, unbegleitet für einen kurzen Moment kadenziert. Ein Seufzer, ein Stoßgebet, eine Sehnsucht, vorgetragen von dem Instrument, das schon immer als »menschliche Stimme« im Orchester galt. Aber sie wird von einem kompromisslosen Abschluss des verhältnismäßig kurzen ersten Satzes überrollt. Aufhellung deutet sich erstmals im zweiten Satz an – aber auch mehr in Form einer Suche. Die Streicher bringen Fluss in die Musik, die Holzbläser tanzen mit einer eigenartig punktuellen Musik darauf wie Lichtpunkte in einem Bachlauf. Ein Naturidyll das stets unterbrochen, gestört wird von einem hier nicht bukolisch, sondern geradezu dröhnend wirkenden Hornmotiv. Der dritte Satz gleicht zu Beginn eher einer Nachtwanderung, mit ihrem schreitenden Rhythmus, in dem das Klopfmotiv des ersten Satzes ins Monströse vergrößert erscheint. Der Aufschwung beginnt wiederum in den tiefen Streichern, in mehreren Anläufen versuchen sie eine Fuge, ein Vor- gang, der des Humors nicht entbehrt, wie Martin Geck betont: »das Erhabene berührt sich mit dem Spielerischen, das Vollkommene mit dem Fragmentarischen, das Überzeitliche mit der Augenblickskomik«. Dann jedoch nimmt Beethoven uns für einen Augenblick mit in die »Nacht des Absoluten«, worin, mit Hegel, »alle Kühe schwarz sind«: ein Niemandsland, aus dem Alles und Nichts hervorgehen könnte. Die Pauke nimmt hier zunächst das Klopfmotiv auf über Liegetönen der Streicher. Während sich das Paukenmotiv allmählich in ein regelmäßiges Pochen und schließlich in einen Wirbel verwandelt baut sich in den Streichern eine nach oben sequenzierende Bewegung auf, die ihrerseits in einem Tremolo mündet, aus deren angestauter Energie heraus das Finale förmlich »herausplatzt«. Unvorhergesehen, unvorhersehbar, pompös.
Die Anekdote des alten Soldaten, der zu Beginn des Finales bei einer Pariser Aufführung mit dem Ruf »C’est l’Empereur, vive l’Empereur« aufgesprungen sein soll (zu einer Zeit, als Napoleon bereits wieder als Befreier vom alten Feudalregime verklärt wurde) ist nur ein plastisches Beispiel für die Assoziationen, die Beethoven mit seinem Finale in den zeitgenössischen Hörern geweckt hat. Schon die Instrumentierung mit Piccolo, drei Posaunen und Kontrafagott trägt dazu bei: Die Posaunen als Instrument der Freiluft- oder Turmmusiken, mit Special Effect-Potential bei Auftritten höherer Mächte, das Kontrafagott, das sich gerade erst in der Wiener Militärmusik eingebürgert hatte, und dem ganzen Satz einen neuen Sound unterlegt. Und schließlich die Piccolo-Flöte, die ebenso mit Marsch-, Militär und Janitscharenmusik assoziiert war. »In allen drei Fällen handelt es sich also nicht einfach um periphere Instrumente, sondern um solche, die wegen ihrer Fixierung auf Spezialaufgaben im Konzertsaal und der ihm gehörigen Musik bisher keinen Platz hatten«, unterstreicht Peter Gülke. »Mit ihrem Hinzutritt signalisiert Beethoven so etwas wie eine Ortsverlagerung der Musik, er versetzt seine Zuhörerschaft in ein öffentliches Forum unter freiem Himmel.« An diesem anderen, dem Konzertsaal so entfremdeten Ort, fordert Beethoven das Publikum heraus mit ihm den Schritt von der Betrachtung zur Handlung, vom Denken zur Tat zu vollziehen. »Diese Grenzsituation des Genres [...] steht für die der Arbeit des Künstlers insgesamt, [...] die eine bequeme Scheidung von Denken und Tun, von ästhetisch-philosophischer ›Innerlichkeit‹ und gesellschaftlicher Praxis nicht hinnehmen konnten«, folgert Gülke. Wiederum übernimmt ein Viertonmotiv die Herrschaft im vierten Satz: doch diesmal ist es kein Pochen des Schicksals, nun sind es vier Töne, denen sich auch mit heutigen Zungen noch leicht die Silben unterlegen lassen: »la liberté«. Dieser Rückgriff auf, den Zeitgenossen noch im Ohr klingende, Revolutionsmusiken haben zahlreiche Interpreten verstört, die darin »ein ganz gewöhnliches Reizmittel, eine Ausfüllung durch Gemeinplätze der Militärmusik«, »fast die Grenzen bedenklicher Volkstümlichkeit« gestreift sehen. Damit weisen die Kritiker, vermutlich ohne es zu wollen, genau auf die Wirkung hin, die Beethoven hier erzeugen möchte. Es ist eine Kritik »an ihrem agitatorischen Gestus, der die Normen des ästhetischen Wohlverhaltens, des ›interesselosen Wohlgefallens‹ (Kant) eindeutig kündigt«, unterstreicht Peter Gülke: »Daß in der Textur dieses von Prägung zu Prägung forteilenden Finales, metaphorisch gesprochen, die Ausrufezeichen die syntaktische Verknüpfung ersetzen, bezeugt das Ungenügen mit der Wirkungsweise einer in ästhetische Kategorien – im damaligen Verständnis – eingeschreinten Musik.« Wie schwer es ist, aus dem Freiheitstaumel wieder zurück zu finden, unterstreicht das Ende der Sinfonie. Im schroffen Gegensatz zum lakonischen Ende des ersten Satzes, kadenziert Beethoven hier zunächst sechsmal von der Dominante zur Tonika. Dann erklingt für 60 Zählzeiten C-Dur, die von weiteren acht Schlägen in C-Dur gefolgt werden. Das wirkt so, als würde jemand mit jedem vermeintlichen Abschluss darum flehen, dass es noch nicht zu Ende sein möge. Oder aber so, als wolle jemand etwas wirklich abschließen. Endgültig. Auch das kann schockierend wirken. Heute, hier, jetzt.