Rezension: „Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“ von Byung-Chul Han
Dieses Buch handelt von den Folgen dessen, was Wirtschaftswissenschaftler Disruption nennen. Gemeint ist das Ende der analogen Arbeitswelt, der analogen Kommunikation, des analogen Konsums, der analogen Politik und ihrer Kontrollorgane, der analogen Presse. Die Devise dieser Disruption lautet: „Let go of the past!“ – auf Deutsch etwa: Kümmere dich nicht darum, wie irgendwas früher lief. In Zukunft wird es jedenfalls anders laufen. Disruption bedeutet Abbruch und Neuanfang – woanders. Nämlich in der digitalen Sphäre. Ganz so, als hätten wir es mit zwei Welten zu tun, zwischen denen keine Verbindung besteht. Byun-Chul Han argumentiert in seinem Buch „Psychopolitik“ allerdings nicht nach dem Motto „Let go of the past!“, also ahistorisch, sondern er liefert den Abriss einer Theorie über die Gegenwart, die sich aus der Vergangenheit speist. Der in Südkorea geborene Philosoph hilft uns, die wir in beiden Sphären leben, zu verstehen, wie uns gerade geschieht. Sein Buch beginnt mit dem Satz: „Die Freiheit wird eine Episode gewesen sein.“
Zeiten der Freiheit, sagt Han, sind Zeiten des Übergangs von einer Zwangsherrschaft zur anderen. Wir stünden gerade am Ende einer dieser guten Übergangsperioden. Und den 55-Jährigen interessiert, wieso wir das nicht bemerken. Wieso wir im Vollgefühl der Freiheit nicht bemerken, wie sie sich längst in ein System perfider Zwangsmechanismen verwandelt hat. Im Bereich der Arbeit zum Beispiel: „Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. (…) Und aufgrund der Vereinzelung des sich selbst ausbeutenden Leistungssubjekts formiert sich kein politisches Wir, das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre. Wer in der neoliberalen Leistungsgesellschaft scheitert, macht sich selbst dafür verantwortlich und schämt sich. (…) (Man) richtet die Aggression gegen sich selbst. Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum Revolutionär, sondern zum Depressiven.“
Die Ausgebranntheit der Selbstoptimierer und die Depression als Antwort auf die systematische Überforderung war auch Thema von Han's Buch mit dem Titel „Müdigkeitsgesellschaft“. Ebenso schmal, ebenso knapp und schlaglichtartig in der Argumentation wie „Psychopolitik“, war es – mit Übersetzungen in elf Sprachen – sein bisher erfolgreichstes Buch. In beiden Arbeiten geht es um die Volten des Neoliberalismus und der rasenden Lähmung, die uns derzeit ergriffen zu haben scheint. Eine Lähmung, die gepaart ist mit Gefühlen der Orientierungslosigkeit und der Ohnmacht. Wieso setzen wir der offenbar lückenlosen Überwachung unserer digitalen Kommunikation keinen Widerstand entgegen? Wieso ermöglichen wir sie sogar noch durch „freiwillige Selbstausleuchtung und Selbstentblößung“, wie Han ganz richtig bemerkt?
Er vergleicht die von Foucault in seinem Klassiker „Überwachen und Strafen“ beschriebene Disziplinargesellschaft der Vergangenheit mit dem Konsensregime der neoliberalen Netzgesellschaft, das nur positive Äußerungen, nämlich Likes, goutiert.
„Die smarte Macht schmiegt sich der Psyche an, statt sie zu disziplinieren. Sie erlegt uns kein Schweigen auf. Vielmehr fordert sie uns permanent dazu auf, mitzuteilen, zu teilen, teilzunehmen, unsere Meinungen, Bedürfnisse, Wünsche und Vorlieben zu kommunizieren und unser Leben zu erzählen. Diese freundliche Macht ist gleichsam mächtiger als die repressive Macht. Sie entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Die heutige Krise der Freiheit besteht darin, dass wir es mit einer Machttechnik zu tun haben, die die Freiheit nicht negiert oder unterdrückt, sondern sie ausbeutet.“
Die Transparenz ist einseitig
Wie geschieht das? Mithilfe unserer Daten: Suchanfragen, Downloads, Kauftransaktionen. All diese Daten werden gespeichert und miteinander ins Verhältnis gesetzt, und das nicht, weil wir so interessant wären, sondern weil die Server inzwischen groß genug sind, um all unsere Bewegungen im Netz aufzunehmen und daraus unsere Profile zu generieren. Byung-Chul Han befürchtet nun – wie viele andere Netzkritiker auch – dass die manische Datensammelei die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigen könnte, und zwar indem sie zur Steuerung unseres Verhaltens missbraucht wird. Parallel dazu verfolgt er aber auch eine andere These, nämlich dass die massenhafte Evaluation eigentlich blind sei für die Gründe ihrer Ergebnisse, sie sei eine dumme, bloß additive Methode. Han nennt Big Data abfällig „digitalen Dadaismus“ und stellt in Aussicht, dass der Spuk womöglich bald vorbei sei. So wie die Statistik im 18. Jahrhundert noch als objektive Methode gefeiert, doch schon während der Romantik belächelt wurde als ein Messinstrument, das aufs Durchschnittliche abziele und das Einzigartige, das Unwahrscheinliche, das Rätsel des Lebens ignoriere, so Han. Kann das ein Trost sein? Nein. Die Romantik wird gewöhnlich auf den Beginn des 19. Jahrhunderts datiert, und auch wenn wir nur zehn Jahre lang unter der Knute erzwungener Transparenz durch Big Data leben müssten, es wäre zu viel. Dieser Vergleich Hans führt also in eine Sackgasse. Die Frage ist eher, wieso Big Data derart boomt, wieso die Experten in Silicon Valley uns weismachen können, dass Big Data unanfechtbar, weil leidenschaftslos und neutral sei, also so ganz anders als der Mensch. Und da läuft Byung-Chul Han zur Hochform auf. Seine Antwort, hier unzulässig kurz zusammengefasst: Big Data ist für den Konsumenten und Bürger gedacht, nicht für die Mächtigen. Regierungen und die großen Netzfirmen lassen sich nicht tracken. Die Transparenz ist einseitig. Hinter der Big Data-Euphorie wird die Fratze zweier Überwältigungssysteme sichtbar, die des Überwachungsstaates ebenso wie die der neoliberalen Marktwirtschaft. Big Data verspricht das große Geschäft und politisch die Sicherheit eines Friedhofs.
„Wenn Big Data Zugang zum unbewussten Reich unserer Handlungen und Neigungen böte, so wäre eine Psychopolitik denkbar, die tief in unsere Psyche eingreifen und sie ausbeuten würde.“
Wie frei ist der Mensch im Zeitalter der digitalen Transparenz? Byung-Chul Han's Buch „Psychopolitik – Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“ verbreitet in dieser Frage wenig Zuversicht. Aber es liefert so manchen Aha-Effekt, denn es zeigt ein paar Zusammenhänge auf, die bislang wenig diskutiert wurden: die zwischen Selbstoptimierung und Angst, Anpassung und Transparenz, Big Data und Einfalt. Das ganze in einer kompakten, eleganten, verständlichen Sprache, die stellenweise beachtliche Schlagkraft entwickelt.
Briggite Neumann DLF Kultur/Büchermarkt, Sendung vom 22. Juni 2015