W.A. Mozart – Sinfonie Nr. 39 Es-Dur KV 543
Es ist rätselhaft. Kleine Kinder lieben Mozartsche Musik. Wenn sie älter werden, wenden sie sich von ihr ab, nur, um Wolfgang Amadé Mozart später restlos zu verfallen. Warum das so ist, wurde noch nicht erforscht. Es soll ja auch Sandkastenschmusereien geben, die sich als ultimative Liebe entpuppen. Vielleicht ist Mozarts Musik genau das: ein perfekter Einstieg, bedingungslos barrierefrei. Und später, viel später, entdeckt man Details, Harmoniefolgen, Trugschlüsse, die das Reich des Unheimlichen aufschließen. Daran erinnern wir uns, wenn wir die »Sinfonie Nr. 39 Es-Dur« hören, weil Mozart uns ums Ende betrügt. Und damit bringt er uns zum Nachdenken.
Vorerst: Dieses halbstündige Werk musste in den letzten zweihundert Jahren einiges aushalten. Leidensgenossen sind die Sinfonien Nr. 40 und Nr. 41, denn dieses Dreier-Paket wird bis heute von detektivischen Musikwissenschaftlern zusammengeschnürt, nur damit der nächste das Bukett wieder auseinanderrupfen kann. Keiner kann mit Gewissheit sagen, ob die Trias einst als Trilogie gedacht war oder eben nicht. An dieser Stelle soll das mühselige Für- und Wider ausgespart, vielmehr gefragt werden: Was treibt die Nachwelt, die vermeintlichen Behüter und Bewahrer der Musik, dazu an, fachkundige Streitereien mit größter Neugierde und Besserwisserei zu führen?
Der Wunsch der nachfolgenden Generationen, die Verbandelung der drei Sinfonien nachzuweisen, ist wohl zu einem großen Teil darauf zurück zu führen, dass es eine weitere schöne, mystische und kunstreligiöse Geschichte wäre. Und eine gute »Story« verhilft der Musik zu einem längeren Überdauern, weil sie das Schwere, das Komplexe, die Musik, leichter konsumierbar machen würde. Diesen Schutz benötigt Mozart nicht. Es sind die letzten drei Sinfonien von Mozart, er ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens in dieser Gattung. Dennoch spekulieren die Bewahrer über solche »Schwanengesänge«, eben die letzten Werke eines Künstlers, enorm. Sie lassen Bilder im Kopf aufploppen von einem greisen Komponisten, der mit letzter Kraft sein musikalisches Vermächtnis zusammenschreibt – am besten im Sterbebett, schwerlich röchelnd – ehe ihm das Tintenfässchen aus den schwachen Händen gleitet. Eine ästhetische Bilanz der Welt, die doch so viel erklären könnte über den grundsätzlichen Lauf der Dinge. Und warum hätte der gute Amadé das alles auf sich genommen? Natürlich. Für die Nachwelt. Also für uns.
Eine solche Geschichte wäre doch ein ganz fabelhafter, süß duftender Nebel, der die Musik umhüllen könnte. Exakt: Könnte. Denn Mozart war 1788 kein Greis, er war zweiunddreißig, konnte seinen Griffel also noch recht fidel halten und war seit sieben Jahren der erste kompositorische »Freelancer« der Musikgeschichte in Wien. Auch das Vermächtnisargument mag einfach nicht passen, er starb 1791, freilich viel zu jung, aber drei Jahre nach der konstruierten testamentarischen Trias. Im Grunde war Mozart ein erfolgreicher und heißgeliebter Musikus in Wien, den größten Teil seines Schaffens durchaus finanziell erfolgreich, wenngleich das zentrale Entstehungszeugnis für die »Sinfonie Nr. 39 Es-Dur« erzählt, dass sich das Blatt schnell wenden kann.
»Liebster, bester freund! – «, schreibt Wolfgang Amadé Mozart vor dem 17. Juni 1788 an den Wiener Tuchhändler und Freimaurer-Logenbruder Michael Puchberg: »Die überzeugung daß Sie mein wahrer freund sind, und daß Sie mich als einen ehrlichen Manne kennen, ermuntert mich ihnen mein Herz aufzudecken, und folgende bitte an Sie zu thun. [...] Wenn Sie die liebe und freundschaft für mich haben wollten, mich auf 1 oder 2 Jahre, mit 1 oder 2 tausend gulden gegen gebührenden Intereßen zu unterstützen, so würden Sie mir auf acker und Pflug helfen! – Sie werden gewiß selbst sicher und wahr finden, daß es übel, Ja ohnmöglich zu leben sey, wenn man von Einnahme zu Einnahme warten muß! – wenn man nicht einen gewissen, wenigstens den nöthigen vorath hat, so ist es nicht möglich in ordnung zu kommen. – mit nichts macht man nichts; – wenn Sie mir diese freundschaft thun, so kann ich … mit sorglosern gemüth und freyern herzen arbeiten, folglich mehr verdienen. – «
Es ist ein demütigender Bettlerbrief eines strauchelnden freischaffenden Komponisten. Nimmt man noch den Umzug in die Vorstadt Alsergrund (am 17. Juni) in eine kleinere Wohnung hinzu und den Tod der sechs Monate alten Tochter Theresia (am 29. Juni), so waren diese Sommermonate mit Sicherheit eine schwere Zeit. Für den Absturz des Komponisten in die Verschuldung gab es verschiedene Gründe. Einerseits hatte sich Mozarts musikalische Sprache vom Geschmack seines Publikums entfernt. Andererseits gab es für das Desinteresse des Publikums auch äußere, politische Gründe. 1788 kommt durch den sogenannten »Achten Österreichischen Türkenkrieg« das soziale und gesellschaftskulturelle Leben in Wien beinahe zum Erliegen, da ein großer Teil des männlichen Adels zum Militär eilt, die anderen sich auf ihre Güter zurückziehen. Mozart musste betteln, damit sein Lebensstandard, der zeitlebens immer ein bisschen höher war als sein Verdienst, gehalten werden konnte.
Zurück zum Mozartschen Musikrätsel, das Kinder verzaubert, Jugendliche langweilt und Entwachsene schockiert. Schon E.T.A. Hoffmann schrieb, dass die Es-Dur-Sinfonie »in die Tiefen des Geisterreichs« entführt, da die Musik ungeachtet ihrer erstaunlichen Strahlkraft und ihres Temperaments auch den Bereich des Düsteren und Dämonischen berührt, ja sogar öffnet. Gerade dieses Werk lehrt, dass Glück nicht gleich Glück ist, Wut am Tanz auch Schock beinhaltet und Trauer sich erst dann maximiert, wenn sie vom Heiteren durchstrahlt wird.
Der Es-Dur-Sinfonie wird häufig der Stempel »glücklich«, »beseelt« und herablassender »nett« aufgedrückt. Sich durch das vermeintlich Profane hinters Licht führen zu lassen, passiert rasend schnell, denn diese Sinfonie ist ein Paradewerk der Gattung und folglich für die Musikgeschichte keine Sternstunde der absoluten Revolution: die erhabene Tonart Es-Dur wird blitzartig in der Einleitung präsentiert, die mit typischen Punktierungen nach dem Vorbild der barocken Ouvertüre gestaltet ist. Dass der »erhabene Stil« nach zeitgenössischer Vorstellung freilich auch scheinbares Chaos mit einschließt, macht Mozart durch vielerlei Kontraste deutlich. Mozart irritiert, aber verstört nicht. Jedenfalls nicht durch Auseinandersetzung mit dem Kompositionsgerüst der Gattung. In das Werk hineinzuzoomen versperrt den Blick für die Antithese aus »glücklich« und »verstörend«. Verstörend ist jeder Takt, um das voraus zuhören braucht es jedoch das Ende, »Finale. Allegro«.
Mozart zerreißt hier – beinahe jähzornig, so schlagartig und bewusst bricht er im letzten Satz heraus – sein anfangs gegebenes Versprechen von einer »majestätischen« und »erhabenen« Sinfonie. Mozart scheint hier auf seinem Billardtisch herumzuspringen, auf dem er so gerne komponierte, und frönt dem Spaß am Absurden. »Unter seiner Würde« behaupten da viele, zu verspielt ohne jedoch einen doppelten Boden zu liefern. Viele Hörer vermissen hier eine ähnlich subtile Doppelbödigkeit, wobei genau das erschlägt.
Mozart verwehrt uns ein »Happy End« der intellektualisierten Stimmführung, sondern er liefert uns ein tatsächliches »Happy End«. Der letzte Satz ist, gerade die letzten dreißig Sekunden, ein schmerzliches Lehrstück. Mozart kratzt den Hörer maximal auf. Alle Geigen vereinen sich, nehmen vier Tontreppenstufen abwärts und (Pardon!) »geilen« den Zuhörer noch einmal so richtig auf. Nach allen Regeln seiner Kunst und das ganz unerwartet. Die Stimmung wird für zwei Sekunden knallbunt, die Klänge irisieren und das Orchester strahlt beinahe schmerzhaft profan. Und dann?
Sieben Töne sind lieblos angeheftet. Ende. Es ist der angedeutete Melodiefetzen, an den wir uns im Finale so schnell gewöhnten. Mozart lässt uns wortwörtlich am ausgestreckten Arm verhungern, in dem er eine angekündigte Wiederholung auslässt. Es wirkt wie eine bodenlose Frechheit.
Da muss man sich betrogen fühlen. Mozart lehrt uns auf wunderbar unprätentiöse Weise, dass das Publikum nicht in eine Bestellhaltung abdriften darf. Er ist kein Pizzalieferant, der goutierend zubereitet, was gefordert wird. Jede Sekunde ist kostbar und wenn wir uns zurücklehnen, weil wir vermeintlich bereits wissen, wie es weiter geht, entzieht er uns die Gunst seiner Kunst. Da sitzen wir, empört und fassungslos und wollen alles noch einmal hören, weil wir feststellen, dass wir doch alles verpasst haben. Damals gab es keine Schallplatten, eine Zweitaufführung war stets unwahrscheinlich. Das war ein verdammt harter Schlag für das damalige Publikum. Das ist das fabelhafte an dieser Sinfonie. Danach ist klar: Zuhören. Von Anfang an. Und zwar auf Stuhlkante bitte!
Text: Christopher Warmuth