Text: Thilo Braun
Priester Marqués de Valde-Íñigo hatte keine Mühen gescheut. Zur Mittagszeit ließ er Wände und Fenster seiner Kirche mit schwarzem Tuch verhängen und schloss die Türen. Die Santa Cueva, eine in die Felswand gebaute Kapelle über Cádiz, war nun beinahe finster. Nur ein einziger Kronleuchter warf flackerndes Licht auf die Gemeinde, die dort auf den Kirchenbänken kauerte. Dann: Schläge. Staccatissimo. In d-Moll erklingen die ersten Takte der »Sieben letzten Worte« von Joseph Haydn.
Die Uraufführung am Karfreitag 1787 war ein musiktheatrales Happening. Für den Gottesdienst hatte Priester Valde-Íñigo eine Meditationsmusik in Auftrag gegeben, deren Sinn es war, die zelebrierten Sterbensworte Jesu in ein mystisches Gewand zu kleiden. »Die Aufgabe, sieben Adagios, wovon jedes gegen zehn Minuten dauern sollte, aufeinander folgen zu lassen, ohne den Zuhörer zu ermüden, war keine von den leichtesten«, erinnert sich Joseph Haydn später.
Der schon zu Lebzeiten gefeierte Meister der Wiener Klassik macht es sich aber auch nicht einfach. Er liefert eine Musik, die entschlüsselt werden will. Keine Tonmalerei im Sinne einer simplen Imitation der Worte und Beschreibungen des Bibeltexts (vom Erdbeben im letzten Satz abgesehen), vielmehr eine musikalische Predigt. Haydn nimmt die Worte als Ausgangspunkt, um im raffinierten Spiel unterschiedlicher Stimmungen, Tonarten und Motive einen Dialog mit dem Zuhörer zu führen. Eine simple Deutung lässt das nicht zu.
Dabei wirkt die Sache auf den ersten Blick gar nicht so kompliziert. In der Partitur schreibt Haydn am Anfang jeder Sonate den lateinischen Bibeltext unter die Stimme der ersten Geigen. Das musikalische Material kann und soll also auf den Text rückbezogen werden (beispielsweise in Form einer punktierten Abwärtsbewegung in der ersten Sonate über dem Wort »Pater«).
Und doch gibt die Musik Rätsel auf. Wieso steht die zweite Sonate in stockfinsterem c-Moll? »Heute wirst du mit mir im Paradies sein«, lautet der Bibeltext, der den Gläubigen ein besseres Leben im Jenseits verspricht. Und die Musik? Geigen und Solo-Violoncello singen eine gedämpfte Klage, die anderen Instrumente stottern monotone Viertel dazu. Möchte Haydn die Rede vom Paradies als leeres Versprechen entlarven? Oder muss zunächst das Elend des Diesseits gezeichnet werden, um die folgende Aufhellung nach C-Dur noch strahlender zu erleben?
Uns mit süßlicher Paradiesmusik den Kopf zu benebeln, kommt Haydn jedenfalls nicht in den Sinn. Er arbeitet mit dem Nebeneinander des Widersprüchlichen und zwingt uns so, einer komplexen Wirklichkeit ins Auge zu blicken. An Stelle göttlicher Wahrheit stellt seine Musik den sterbenden Menschen in den Mittelpunkt, mit all seinen Ängsten und Zweifeln, Sorgen und Sehnsüchten.
In keinem Satz wird das wohl so deutlich wie in der vierten Sonate. »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« lauten die krassen Worte Jesu. Eine finstere Klage in f-Moll, beladen mit bleischweren Sforzati und Seufzer-Vorhalten, eröffnet den Satz. Doch die Sonne blinzelt auch diesmal rasch wieder zwischen den Wolken hindurch, die Tonart wechselt nach Dur, verheddert sich in dissonant getrübten Sequenzierungen, fällt wieder in die Klage zurück. Als wollte sich der Sterbende selbst Mut zusprechen, versuchen einzelne Instrumentengruppen es immer wieder mit frohen Signalen. Möglicherweise ein Bild für Jesus, der in altem Vertrauen seinen Vater anspricht – nur antwortet der diesmal nicht. Unheimliche Stille herrscht in den vielen Generalpausen, das Sterben ist selbst für den Sohn Gottes eine einsame Angelegenheit.
Die Unbarmherzigkeit des Todes offenbart sich auch in der fünften Sonate, die das Bibelwort »Mich dürstet« vertont. Über ein staubtrockenes Pizzicato-Bett der Streicher hauchen verschiedene Instrumentengruppen den Ruf nach Wasser. Die Einsätze klingen kraftlos und verletzlich, dabei zugleich liebevoll und zart. Umso härter poltert das zweite Thema. Abgehackte Fortissimo-Staccati in den Geigen, darüber endzeitliche Signaltöne wie schmerzerfüllte Schreie.
Man darf den Ruf nach Wasser wohl auch als eine Sehnsucht nach dem Leben selbst deuten. Wenn in Haydns Komposition blühende Lieblichkeit auf dissonante Härte trifft, wirkt das, als würde der Mensch versuchen, sich in schöne Erinnerungen zu flüchten, bevor die Realität ihn brutal wieder zurückreißt.
Der Tod ist unbesiegbar, in diesem Punkt müssen wir Menschen unsere Hilflosigkeit akzeptieren. Grenzen des Lebens wahrzunehmen bedeutet aber auch, Sinn und Unsinn der verbleibenden Zeit zu reflektieren. Die frohen Momente in Haydns Werk können wir als Impuls wahrnehmen, Licht und Schönheit zu suchen, anstatt die Fenster unserer Welt mit schwarzem Tuch zu verhüllen.