Patrick Hahn über Felix Mendelssohns Streichquintett
Wer sich mit dem Suchwort »Geist« dem zweiten Streichquintett von Felix Mendelssohn nähert, wird in jedem Fall mit einer Fülle von Assoziationen beschenkt. Ist nicht schon der erste Satz ein wahrer »Höhenflug des Geistes«? Wie die erste Violine sich aufschwingt und in so kurzer Zeit alle Erdenschwere hinter sich zu lassen scheint? (Die Virtuosität des Violinparts verdankt sich – wie das ganze Werk – übrigens der Freundschaft Mendelssohns zum Leipziger Konzertmeister Ferdinand David und dessen Wunsch nach einem Kammermusikstück »in stilo moltissimo concertissimo«.) Die Erdenschwere ist gleichwohl sehr präsent, in Gestalt einer triolischen Begleitfigur. Ein Prozess wird in Gang gesetzt, in dem die Gegensätze miteinander vermittelt werden – wobei es keinen dualistischen Widerspruch zwischen beiden gibt, sondern ein schwankendes Gleichgewicht hergestellt wird zwischen Glanz und Dunkelheit, zwischen Dur und Moll und die wahren Gefühle sich einmal mehr als die »gemischten« herausstellen.
Das Andante scherzando empfängt den Hörer im 6/8 Takt – ein Restgefühl der Triolen bleibt erhalten – auch wenn er sich nun in anderen Figurationen auflöst. Scherzando ist dieses Andante kaum, auch wenn es durch den rhythmischen Satz und den Einsatz von Pizzicati und Akzentverschiebungen für Biss sorgt und auch die Bitternoten nicht außen vorlässt. Zugleich bleibt die Form gewahrt, die Musik lässt sich nicht hinter die Fassade blicken.
Ganz anders im dritten Satz Adagio e lento, der zu den ganz großen Schöpfungen der romantischen Kammermusik gezählt werden darf. Es ist ein Trauergesang, der sich zu großer Dramatik steigert. In Moll empfängt den Hörer das erste Thema, ihm steht ein zweites in Dur gegenüber. Das Schwanken zwischen Dur und Moll bleibt ein Kennzeichen auch dieses Satzes. Daneben ist die dialektische Bewegung von These, Antithese und Synthese hier in Reinform zu erleben. Wie schließlich die Dramatik des Aufeinanderpralls in beseelten Gesang übergeht – zunächst ätherisch, flehend, dann glühend, strahlend – ist ein »Gipfelmoment«, der dem Schluss von Lachenmanns Reigen in nichts nachsteht. Ist es für das Streichquartett am Ende von Lachenmanns Reigen unmöglich, einfach weiter zu spielen, da die Instrumente schwer verstimmt sind, setzt Mendelssohn diesem Adagio, der Konvention folgend, noch einen vierten Satz hinzu. Hier zeigt sich der an Bach geschulte Meister des Kontrapunkts, der mit gleicher Eleganz Fugati komponiert wie ihm das Melos aus der Hand fließt. Ganz zufrieden war Mendelssohn mit diesem Abschluss nicht, eine beabsichtigte Revision verhinderte die Veröffentlichung zu Lebzeiten. Vor seinem Tod zwei Jahre später kam Mendelssohn jedoch nicht dazu, das Werk zu überarbeiten. Das Quintett für das Streichorchester einzurichten und damit einzelne Facetten des Werkes noch deutlicher hervorzuarbeiten, ist angesichts des Gestus der Musik mehr als verständlich. Mendelssohn selbst scheint das Quintett an einigen Stellen zu eng geworden zu sein, wie Doppelgriffe immer wieder unterstreichen. Sie liegen vor allem in der Stimme der Bratsche. Kenner dürfte dies nicht wundern. Mögen die Violinen sich auch in hehren Höhen bewegen – aller Geist geht von der Bratsche aus.