Artikel von Helmut Lachenmann über Luigi Nono in »Melos«, Schott 6/1971
--Auszug--
Der einzelne Ton, scheinbar integriert in ein serielles Gefüge, ist zugleich in eigentümlicher Weise expressiv geworden. Klangfarbe und Lautstärke, die an geläufige instrumentale und vokale Mittel gebunden blieben, erhalten dabei durchweg Erfahrungskategorien alter, tonaler Machart lebendig und wirksam. Die sinnvolle Integration solcher nicht weiter auflösbaren Reste in neue Konzeptionen ist ein Problem, dem auch heute noch die Komponisten hilflos gegenüberstehen. Die seit 1955 etwa versuchten Auswege, zum Beispiel die Gruppenkomposition, die Zusammenfassung und Entlastung der einzelnen Tonhöhen durch Rückkehr, wenn nicht zur Gestik, so eben zu ihrer absurderen Form: zur Gestikulation, die dann logisch zur Improvisation und zur mit den verschiedensten Pseudoideologien salonfähig gemachten Aleatorik führte, Entwicklungen, die ganze Schwärme von Epigonen verschiedenen Niveaus hervorriefen. oder jener andere Ausweg einer neodadaistischen, kulturkritisch sich gebärdenden Rückbesinnung auf absurde Klischees der musealen Musikkultur- alle diese Auswege, die meistens Rückwege waren oder bedeuteten, lehnte Nono ab. Er versuchte, das Problem ohne stilistische Konzessionen auszutragen. In seinen Werken von »Varianti« 1957 bis »Diario Polacco« 1959 hat Nono verschiedene Arbeitsweisen angewandt, um jenen letzten Rest durch neue Methoden der Artikulation zu überwinden. Dies geschah mit Hilfe innerlich reich differenzierter Massierung von Tonhöhen, durch Aufspaltung in verschiedene Klangfarben, schließlich durch Vertikalisierung der Reihe zu chromatisch gefüllten Klanggebilden. In den meisten seiner Werke seit »lncontri« hatte sich Nono immer derselben Reihe bedient, in welcher alle Intervalle der Größe nach in Zickzackrichtung aufeinanderfolgen. Solches Beibehalten ergab sich aus der Notwendigkeit, statt ein zuvor lebloses Klangmaterial charakteristisch zu machen, nun im Gegenteil ein Material durch 227 eine gewisse Gleichschaltung abzutöten, weil dessen Neigung, vorzeitig intervallische oder gar thematische Charaktere zu bilden, übergroß war. Bei diesem seriell manipulierten Abtötungsprozeß ließ Nono aber wieder jenen Rest von nicht zerbrochener, sondern bloß reduzierter harmonischer Thematik stehen, wie dies bei einer permanenten Chromatik unvermeidlich ist.
Was hat es auf sich mit jenen erwähnten tonalen Resten? Man wirft Nono immer wieder vor, er sei stehengeblieben. Man verkennt dabei, was Stehenbleiben bedeutet in einem Stadium, wo alle anderen Komponisten zurückgegangen und auf Wege geringeren Widerstandes ausgewichen sind. Der kompositionstechnische Konflikt der Musik Nonos, der dem enttäuschten Bourgeois und dem enttäuschten Gesinnungsgenossen von früher gleichermaßen Vorwände zur Polemik liefert, ist der zentrale Konflikt dieser musikalischen Epoche: Wie befreie ich mich endgültig von der offenkundig überlebten Tonalität, ihren Denkmodellen und Mitteilungsformen - anders ausgedrückt: wie gelange ich zu einer Musik außerhalb jener Erfahrungsgesetze des tonalen Bewußtseins und dessen ästhetischen Klischees? Einer analytischen Untersuchung an anderem Ort bleibt der Nachweis vorbehalten, daß die Neue Musik, so wie sie sich entwickelt hat, hilflos fixiert bleibt an eine mit dem Begriff »Tonalität« umschreibbare Mitte, ja, daß radikalster Avantgardismus, auch dort, wo er die bizarrsten Formen annimmt, nichts anderes bleibt als ein Spiel mit dieser Mitte, eine wenn auch noch so raffiniert inszenierte Bewußtseinsanspannung, deren kommunikativer Wert sich immer aus dieser Mitte bestimmt. Die Reihentechnik war ein Versuch, die Tonalität systematisch zu überwinden. Der Versuch, dem wir gewiß entscheidende Erfahrungen verdanken, was leicht vergessen wird: er mißlang. Diese Erkenntnis wirkte lähmend auf die einen, siehe Boulez, anderen aber schien sie Signal zu sein zu einem unsystemathischen Fischen im trüben anhand privater Euphorien. In jedem Fall scheint mir die Zeit, in der die Avantgarde sich ihrer seriellen Uniform wieder entledigen mußte, wenn sie nicht in Donquichotterien verfallen wollte, den tiefsten Aufschluß über die kompositorische Grundhaltung des einzelnen zu geben.