an der Grenze zwischen Risiko und Chaos
Gedanken zum Unbekannten

Text: Tobias Rempe

Roland Barthes unterscheidet drei verschiedene Arten des Hörens: Zunächst definiert er das physiologische Hören, das wir auch jedem mit Hörsinn ausgestatteten Tier zuschreiben, eine Art Alarm. Weiter nennt er das Hören als ein bewusstes Entziffern von Zeichen, wie etwa das Verstehen von Sprache. Eine andere Kategorie ist das, was er das Zuhören als psychologischen Akt nennt, das nicht darauf ziele, »was gesagt oder gesendet wird – sondern wer spricht oder sendet.« Es entfalte sich in einem »intersubjektiven Raum, in dem ‚ich höre zu’, auch ‚ich höre mir zu’ heißt«.

Der Komponist Helmut Lachenmann würde ergänzen: »So wird Hören dann zum Beobachten. Wenn ich beobachte, sage ich nicht mehr, das ist gut oder das ist schlecht oder langweilig oder interessant, sondern: Was ist das? Und dabei beobachte und entdecke ich auch mich selber. Wo das passiert, fängt bei aller Begeisterung oder Verwirrung das Hören an zu denken. Nicht unbedingt intellektuell, wahrscheinlich eher mit den Nerven, aber es fängt an zu denken.«

Klassische Musik als lebendige Kunst zu verstehen, hat sich das Ensemble Resonanz auf die Fahnen geschrieben. Legt man zu Grunde, dass eine offene und neugierige Haltung dafür die Grundlage bildet und zieht die zitierten Ausführungen von Barthes und Lachenmann hinzu, erscheint einem im Hören von Musik gleich welchen Alters oder welcher Epoche letztendlich immer die Frage nach Erweiterung, die Erfahrung von etwas Neuem, also: die Begegnung mit dem Unbekannten mindestens als Möglichkeit enthalten zu sein. Die Frage scheint nur noch, wie bereit man ist, dieser Möglichkeit Raum zu geben, oder ob man im Hörerlebnis lieber das Vertraute und die Wiederholung sucht und herausstreicht.

Dass wir unsere Saison »Into the Unknown« überschrieben haben, hat also nicht nur mit der Vorfreude auf das Entdecken der neuen Möglichkeiten im Kleinen Saal der Elbphilharmonie zu tun. Wir haben damit auch etwas in den Mittelpunkt gestellt, das unseren eigenen Umgang mit Musik und vor allem unser Nachdenken über Konzertprogramme immer begleitet hat. Als alt und neu werden diese Programme häufig gelabelt und tatsächlich durchzieht die Verbindung von kanonisiertem Repertoire mit Klassikern des 20. Jahrhunderts und zeitgenössischer Musik unsere Arbeit. Vielmehr, als um eine vermittelnde Präsentation Neuer Musik im Kontext vertrauter Klänge – wie es zuweilen verstanden wird – geht es uns dabei um eine besondere Binnenspannung, die wir in unseren Programmen suchen. Um Wechselbeziehungen, Kontraste oder Korrespondenzen, die noch nicht erprobt, möglicherweise von uns auch nur vermutet sind, und in der Konzertsituation wie in einem Experiment mit verschiedenen möglichen Ausgängen gemeinsam mit dem Publikum erstmals erfahren werden können.

Mit Blick auf die Interpretation von Musik hat Nikolaus Harnoncourt einmal gesagt, die besten Interpretationen entstünden »an der Grenze zwischen Risiko und Chaos«. Auch für die Gestaltung von Konzertprogrammen erscheint uns Risiko als ein entscheidender Faktor, das Unwägbare als wesentliche Voraussetzung für eine lebendige Musikerfahrung, für ein spannendes Programm. Man darf nicht vorher schon wissen, was passiert, ob es funktioniert oder wie es ausgeht.

Aber neben dem aufregenden und im besten Falle dann bewusstseinserweiternden gemeinsamen Schritt auf unbekanntes Terrain haben wir ein weiteres Anliegen. Unsere Programme sollen Einladungen sein, die gespielte Musik im wahrsten Sinne unvoreingenommen zu erleben. Die klassische Musikkultur setzt sich sehr viel und immer wieder mit lange bekannten und sehr vertrauten Werken auseinander. Neugier oder ein überraschendes, tief gehendes Konzerterlebnis können dadurch tatsächlich erschwert werden. Hinzu kommt, dass in Bezug auf die Werke, unabhängig von der Leistung der Interpreten, häufig die Standards bereits gesetzt sind. Es ist von vorneherein klar, was großartig ist, es geht um Meisterwerke, Genies, Götter.

Der Autor Patrick Hahn schrieb in einem unserer Programmhefte der letzten Saison: »Verehrung. Andacht. Zum Niederknien. Wer vor Vorbildern zu tief in die Knie geht, kommt oft schwer wieder hoch. Oder er ist schlicht auf dem Holzweg. In der Kunst ist beten verboten.« In der Tat entsteht zu häufig der Eindruck, die adäquate Haltung, dieser Musikkultur gegenüberzutreten, sei eine knieende. Dabei würde, davon sind wir überzeugt und dazu wollen wir einladen, ein selbstbewusstes und persönliches Urteil der Zuhörer über das Erlebte eine wachere Hörhaltung bewirken und im Zweifel am Ende ein tieferes Erlebnis. Denn wie im echten Leben: Eine freiwillige und immer wieder neu entdeckte, eine unter Prüfung und Infragestellung bestätigte Liebe ist die echtere.

Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt das Glück eines bewegenden Konzerterlebnisses als »Resonanzerfahrung«. In seinem Buch »Resonanz« definiert er überhaupt die Qualität einer gelingenden Beziehung des Menschen zur Welt, in der er sich aufhält, über das Phänomen der Resonanz. Planbar seien solche Reso- nanzerfahrungen nicht sagt er im Interview, das Sie in diesem Heft lesen können, aber Kriterien, die ihnen entgegen stehen, könne man benennen: Dazu gehören laut Rosa unter anderem Erwartbarkeit, Wiederholung, Distinktion, Überwältigung. Interessanterweise sind also Parameter dabei, die die Präsentation klassischer Musik lange durchaus mitbestimmt haben und es auch teilweise heute noch tun.

Die Wahl zwischen einem Fokus auf das Bewährte oder der Suche nach Entdeckungen erscheint so als eine Grundsatzentscheidung, und tatsächlich sind viele Schwerpunkte in der Arbeit des Ensemble Resonanz dem Bezug auf eine lebendige und dem Heute verpflichtete Musikkultur geschuldet: Der selbstverständliche Umgang mit zeitgenössischer Musik, das Interesse an neuen Präsentations- und Kommunikationsformen, der resonanzraum.

Noch einmal Lachenmann: Ein »Abenteuer« sei die Begegnung mit Musik, betont er immer, und das spricht uns aus dem Herzen. Wir lieben unsere Musik, wir nehmen sie sehr ernst und treiben einen hohen Aufwand. Wir wollen mit unserem Publikum aber auch etwas erleben, das wir noch nicht kennen. Immer wieder, auch an der Elbphilharmonie. 

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