Ein Interview mit Hartmut Rosa
Seit Jahren beschäftigt sich Hartmut Rosa mit dem Phänomen der sozialen Beschleunigung. Die Steigerungslogik der Moderne legt er als Ursache und Folge einer gestörten Weltbeziehung dar, die in Entfremdung mündet. Jedoch sei nicht Entschleunigung die Antwort auf diese Problematik, sondern Resonanz. Resonanz beschreibt er als die Suche danach, die Weltachsen nicht verstummen zu lassen, die Kunst – vor allem aber die Musik – als zentrale Resonanzsphäre des modernen Lebens.
Beschleunigung und eine damit einhergehende Entfremdung beschreiben Sie als das hervorstechende Merkmal postmoderner Gesellschaft. Wie wirkt sich das auf unser Hören aus?
Man findet schon in der historischen Entwicklung der Musik interessante Beschleunigungseffekte: In der Romantik gewinnt Dynamisierung eine ganz andere Bedeutung, das Spiel mit Tempi geht los, bei Schumann dann findet man Angaben wie ›so schnell wie möglich‹, dann: ›noch schneller‹. Diese Beschleunigung passt zu meiner historischen Analyse der dynamischen Stabilisierung der Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert. Auf die heutige Rezeption wirkt sich diese Steigerungslogik sehr direkt aus: Viele kommen aus einem gehetzten Alltag ins Konzert, mit der Erwartung, dass man den Hebel um 180 Grad herumreißen kann, also aus einer stark optimierungsorientierten Grundhaltung plötzlich umschaltet auf eine rezeptive Welthaltung, in der man mit der Musik oder der Welt in Resonanz treten will. Das misslingt dann häufig.
Ist es denn Zufall, dass das von Ihnen der Entfremdung entgegengestellte Konzept der Resonanz auf einen musikalischen Begriff zurückgreift?
Das ist sicher kein Zufall, Resonanz beschreibt ein Weltverhältnis, wie wir es hauptsächlich als auditives kennen. Die Art und Weise, wie wir mit der Welt verbunden sind, funktioniert auf einer kognitiven Ebene heute ganz stark über die Augen. Damit bearbeiten wir Welt, damit beherrschen wir sie auch. Die Verbundenheitmit der Welt aber scheint mir viel stärker über die Ohren zu gehen.
Wobei die in der Philosophie abgesehen von Adorno eigentlich kaum eine Rolle spielen ...
In der Philosophie und in den meisten unserer Alltagspraktiken sind die Ohren in der Tat unterentwickelt. Wir leben in einer Welt, in der die Bildschirmrezeption und die Daumenwischbewegung die zentralen Modi der Weltverbindung werden. Darin liegt aus meiner Sicht ein Problem. Und daher ist es kein Zufall, dass die Metapher, mit der Welt in Kontakt zu treten, mit der Resonanz eine akustische ist. Da ist das Berührt-Werden , das eine Art Verflüssigung bei den Subjekten auslöst. Wir kommen in Bewegung, wir merken, dass unser In-der-Welt-sein selber zur Disposition steht, sich ändert mit dem Hören. Bei allem, was wir hören – dissonante, konsonante, leise, laute Klänge – merken wir, wie unsere Beziehung zum Körper und zu dem, was uns als Welt gegenübersteht, moduliert und modifiziert wird. Ich glaube, dass da auch der Kern musikalischer Erfahrung liegt. Unsere Weltbeziehung als Ganzes lässt sich geradezu unmittelbar zum Gegenstand machen. Im Musikhören erleben wir, was es heißt, sehnsüchtig, isoliert, euphorisch, liebend auf ›Welt‹ bezogen zu sein, und da scheint mir der auditive Sinn tatsächlich zentral.
Man kann Resonanz auch gut damit beschreiben, dass zwei Klangkörper unter bestimmten Frequenzen miteinander in ein Austauschverhältnis treten. Entscheidend ist dabei, dass beide ihre eigene Stimme behalten. Sie müssen beide geöffnet sein - sonst klingen sie nicht. Und wenn der Klangkörper porös ist, klingt er auch nicht mehr, weil er nicht mehr resonanzfähig ist. Beide Entitäten müssen also offen genug sein, um eine Stimme zu entwickeln, und geschlossen genug, um resonanzfähig zu sein.
Da fällt mir ein, es gibt noch ein anderes Experiment, das ich super finde: Wenn Sie zwei Metronome nehmen, die man mit verschiedenen Tempi einstellt, und gegeneinander auslotet, dann folgt jedes seiner eigenen Stimme. Wenn Sie die auf zwei leere Cola-Dosen stellen und ein dünnes Brett darauflegen, fangen sie an, miteinander in Austausch zu treten, und nach wenigen Minuten schlagen sie im Gleichtakt. Das funktioniert, weil die Cola-Dosen mitschwingen. Sie kommen also in ein Resonanzverhältnis, weil es diesen Resonanzraum gibt, der das Zusammenschwingen ermöglicht. Das kann man auf Youtube sehen, ich hab es aber auch selber nachgebaut und ausprobiert.
Allerdings gibt es dabei ein kleines Problem: Wir haben hier im Endergebnis eine Synchronresonanz. Das, was mich im menschlichen Leben aber eigentlich mehr interessiert, ist die Response-Resonanz, in der wir aufeinander antworten, ohne im Gleichklang sein zu müssen.
Was war denn für Sie ein besonderes, musikalisches Resonanzerlebnis?
Es gibt verschiedene. Ich war jahrelang totaler Bruckner-Anhänger, weil ich irgendwann auf eine CD mit der 5. Sinfonie gestoßen bin. Bei diesem Wiedereinsetzen des Fugenthemas im 4. Satz konnte ich nicht mehr. Aber ich hatte entsprechende Erfahrungen auch mit Rock-Musik, Pink Floyd hat für mich eine große Rolle gespielt. Auch bei Heavy Metal, zum Beispiel bei Savatage, musste ich mal aus der Halle gehen, weil ich so bewegt war. Ich kenne da ganz verschiedene Erfahrungen, von denen ich sagen würde, sie waren Erschütterungen meiner Grundfeste, meiner existenziellen Beziehung zur Welt.
Eine wichtige Rolle spielt in der Kunst das Moment der ›Unverfügbarkeit‹. Das gleiche gilt wohl auch für die rezeptive Seite: Ob mich ein Werk transformiert, ist nicht planbar und hängt von vielen Faktoren ab. Stimmen Sie Umberto Eco zu, dass das Kunstwerk sich in seiner Rezeption vollendet?
Im Grunde ja, denn die Resonanzbeziehung ist ja ein Prozess der wechselseitigen Anverwandlung. Beim Konzert würde ich das sofort unterschreiben: Zwischen Musikern und Publikum besteht ein Resonanzverhältnis oder zumindest kann es im besten Falle dazu kommen. Komplizierter wird es, wenn ich eine CD höre, denn die verändert sich ja nicht, so stark sie mich auch bewegt. Theorien wie die von Umberto Eco würden aber selbst da sagen: ›Doch, das Werk verändert sich!‹ Können wir das Gegenteil beweisen? Die Ideen der Romantik leben ja davon, dass die Dinge miteinander verbunden seien. Und selbst wenn Sie in die Physik gehen, finden Sie solche Gedanken. Ich bin der Meinung, man muss die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es solche Verbindungen gibt.
Die Räume der Kunstmusik, in denen Publikum, Werk und Interpreten miteinander in Resonanz treten können, haben sich eigentlich seit 200 Jahren kaum verändert.
Die klassischen Philharmonien stabilisieren sich in der Tat nicht dynamisch. Das ist hochinteressant, denn es gibt nicht so viele institutionelle Praktiken, die sich der dynamischen Stabilisierung entziehen. Alles muss permanent gesteigert werden, egal, wo Sie hingucken. Ähnlich wie beim klassischen Konzert ist das vielleicht nur beim katholischen Gottesdienst. Das ist wirklich seit 800 Jahren das Gleiche. Aber das hat auch Vorteile, denn ich will ja im Konzertsaal keine Verdopplung der Realität, die ich sowieso schon da draußen habe.
Aus welcher Motivation heraus wird diese Dynamik vermieden?
Wenn es zum Beispiel um Distinktion geht, hat das mit Resonanz wenig zu tun. Dann tauchen wir in eine Oase ein, die obendrein das Problem hat, dass unsere Rezeption keinen Einfluss hat. Ich bin zwar bereit, mich affizieren zu lassen, aber ich bin nicht selber Teil des Geschehens. Es kann aber noch weiter gehen: Dann, wenn aus Angst der Dynamisierung etwas Stillstehendes entgegengesetzt wird. So beschreibt ja auch Pierre Bourdieu, dass es im Konzertsaal tatsächlich zu dispositionalen Entfremdungserfahrungen kommen kann. Da wollen Menschen klatschen zwischen den Sätzen und fühlen sich sofort entfremdet. Da fehlt es dann eigentlich an allem, was man als Resonanzerfahrung beschreiben kann.
Was ich auch interessant finde, ist wenn zum Beispiel Klassikveranstalter mit Sätzen werben wie: ›Lassen Sie sich überwältigen von den Stimmen‹ oder so. Überwältigen ist natürlich gerade nicht Resonanz. Ich höre dann nicht ›das andere‹, das ist also allenfalls Resonanz-Simulation.
Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass es auch insbesondere Routinen und Alltagszwänge sind, die das Eintreten in den Resonanzmodus verhindern oder erschweren. Auf den Spielplänen von Orchestern und Veranstaltern aber finden sich, so zeigen auch die Studien von bachtrack, stets die gleichen Werke von Brahms, Mahler, Mozart. Warum hat die Neugier dann doch eine so leise Stimme?
Eine zu hohe Wiederholungsrate, das merkst Du als Ausführender und als Rezipient, kann zu etwas führen, das eigentlich tot ist. Was man aber dagegenhalten kann: auch Riten stiften Resonanz. Da finden wir alle Arten: horizontale Resonanz zu den anderen, diagonale Resonanz zu den Dingen, das kann das Musikstück sein, oder die Instrumentierung, und vertikale Resonanz, die ich mit dem Gefühl beschreibe, dass etwas über mich hinausgeht. Aber der Ritus kann natürlich erstarren. Das ist in der Kirche so, und ich glaube das ist eine Gefahr bei allen Riten.
Das bringt mich auf einen neuen Gedanken: Ich glaube nämlich, dass Resonanz nicht unbedingt mit dem »im Moment sein« zu tun hat. Die wirkliche Resonanz stellt sich da ein, wo sich ein Fenster öffnet, wo ich das Gefühl von Kopräsenz habe zwischen dem Vergangenen und der Zukunft. Und so ist es natürlich beim Hören.
Apropos Kopräsenz: Ulrich Haider, Hornist bei den Münchener Philharmonikern, wunderte sich einmal im VAN-Magazin: ›Wettbewerb ist zum zentralen Prinzip des Klassikmarktes geworden. Das ist doch seltsam, denn eigentlich hat Wettbewerb mit Musik gar nichts zu tun.‹
Da würde ich dem Hornisten Recht geben. Wettbewerb ist geradezu ein Resonanz-Killer, weil er eine bestimmte Haltung zur Sache und zu anderen Menschen erzwingt. Man kann mit Menschen nur konkurrieren oder resonieren, lautet meine These. Überall im Wettbewerb zu stehen, ob in der Musik, im Sport oder in der Wissenschaft, ist das Eintrittstor zum Verstummen der Resonanzachsen. Das würde ich übrigens gerne mal bei einem Forschungsprojekt untersuchen, zum Beispiel beim Fußball. Diese Logik – bei Bayern München haben die das mal kultiviert – dass es Wettbewerb um jede Position geben muss. Sie haben dann nichts mehr getroffen, hatten eine richtige Krise, bis sie Stammplatzgarantien aussprachen. Wenn jetzt in einem Orchester kein Musiker mehr seines Platzes sicher ist, dann wird die Musik nicht besser, sondern schlechter.
Als Zuhörer gehen Sie natürlich nicht unbedingt in einer Wettbewerbssituation ins Konzert. Aber auch auf der Rezeptionsseite gibt es Gedanken wie: ›Ich brauch das mal wieder‹, sozusagen als Unterbrechung meiner dauernden Konkurrenzorientierung. Das ist natürlich erst einmal eine rein funktionale Entschleunigung – ich mache mal etwas anderes, damit ich in zwei Stunden wieder resonant, kreativ und sonst was bin. Und dann will man ja auch kulturelles Kapital anhäufen, weil man glaubt, man verarmt geistig, wenn man nicht mal wieder ins Konzert geht. Beim Musikhören ist diese Haltung etwas ganz Schlechtes.
Hinzugekommen ist in den letzten Jahren mit der Kreativwirtschaft und Creative-City-Stadtmarketing à la Richard Florida ja eine zusätzlich kapitalisierende Kraft. Wie wirkt sich dieser Prozess der Verfügbarmachung auf die Kunst aus?
Es kommt zu einer Resonanzverdinglichung, Kreativität wird zum Faktor im Steigerungsspiel. Bei Richard Florida, mit Blick auf die Produktionsseite, in folgender Logik: Wenn wir resonant sind, Kunst erleben, uns kreativ entfalten, Sphären schaffen, um uns zu spüren, dann sind wir produktiver. Das ist Verdinglichung von Resonanz. Das gleiche haben wir auch auf der Rezeptionsseite: Ich versuche das, was ich als Resonanz beschreibe, nutzbar zu machen oder zu verkaufen. Das ist Resonanzkommodifizierung. Der Witz ist aber: Es kann auf beiden Seiten fehlschlagen. Ich kann mir eine Konzertkarte für 80 Euro kaufen und gar keine Resonanz erleben. Vielleicht sogar, weil ich 80 Euro bezahlt habe. Und es kann auch sein, dass die gewünschten Kreativprozesse auf Produktionsseite nicht in Gang gesetzt werden. Resonanz ist eben nicht verfügbar.
Neben der Verdinglichung beschreiben Sie auch eine steigende Ästhetisierung des Alltags, dem ›Versuch, die versteinerte Welt mit Schubert’schen Eisblumen zu überziehen‹. Sie deuten das als Resonanzkrise, zum Beispiel, wenn sich zunehmend Menschen mit Kopfhörern von der eigentlichen Resonanz ihrer Umwelt abschirmen. Ist diese Ästhetisierungs-Tendenz nicht trotzdem ein Zeichen dafür, dass ein großer Teil der Gesellschaft für mehr musikalische Resonanz empfänglich wäre?
Doch, wir haben auch die Resonanzsensibilitäten gesteigert. Man entdeckt in den verschiedensten Bereichen eine Sehnsucht nach einer anderen Art von Weltbeziehung. Ob Menschen Gemüse in der Stadt anbauen oder über einen neuen Umgang mit alten Menschen nachdenken, die wieder ins Leben integriert werden sollen. Häufig gehen diese Versuche dann schief, und das ist unter den bestehenden Makrobedingungen auch kein Wunder. Aber in dem Versuch, die Welt zu ästhetisieren, sie in gewisser Weise schön zu machen, sieht man eine Sehnsucht nach Resonanz und eine Angst vor dem Verstummen der Welt. Das Problem ist nur, dass wir dabei statt Resonanzräumen Echokammern schaffen, die wir in wohlriechenden Wohlklang tauchen und in denen wir genau dieses ›Andere‹, das die Kraft hat, uns zu transformieren, ausschalten. Aber zu Resonanz gehört auch das Widerständige, das Störende.
Und das Schöne?
Schönheit ist eine Verheißung. Wir leben in einer Welt, die nicht resonant ist, und möglicherweise kann die menschliche Existenz auch niemals voll resonant sein. Aber im künstlerischen Geschehen, in dem, was wir als Schönheit erfahren, halten wir uns den Sinn dafür offen, dass eine andere Form von Welt möglich ist. Eine - das hat zwar gerade der erste Buchrezensent bezweifelt, aber ich bin zutiefst davon überzeugt - in der unser Weltverhältnis nicht mehr auf Weltbeherrschung und Kontrolle aus ist, sondern auf Hören und Antworten. Da, wo Kunst wirklich noch lebendig ist, kann es ihr passieren, das Weltverhältnis von einer Steigerungslogik wegzulotsen und eine Verflüssigung der Weltbeziehung freizusetzen.
Das Interview führte Elisa Erkelenz