Patrick Hahn zu Helmut Lachenmanns zweitem Streichquartett
Sein ganzes Schaffen kann man als den Versuch begreifen, das Hören zu schärfen, die Antennen stets neu auszurichten und dabei Herz und Hirn, Intellekt und Gefühl stets in eine neue Balance zu bringen. Lange Jahre gebrandmarkt mit dem Stichwort »negativer Komponist«, oder auch: »Komponist der Verweigerung« hat sich doch inzwischen herumgesprochen, was Helmut Lachenmann eigentlich ist: ein Schönheitssucher! Denn, so lautet der Sinnzusammenhang korrekt, der ihm den Titel eines »Verweigerers« eingetragen hat: »Schönheit ist Verweigerung von Gewohnheit!« formuliert Lachenmann pointiert. Und man staunt, wenn man hört, wie ein Cello beispielsweise klingen kann, traktiert man es nicht nur auf die überlieferte Art, sondern entlockt man ihm mithilfe von Schaben, Reiben, Klopfen, Drücken, Pressen und allerhand anderen Kniffen eine Klangwelt, die bislang unter der Oberfläche schlummerte. Wären Instrumente Computer, so hätte man das Gefühl, bislang nur den Bildschirmschoner zu kennen und es bedurfte eines Helmut Lachenmann um zu zeigen, was da sonst noch im Betriebssystem schlummert. Auf diesem Wege hat Helmut Lachenmann schließlich auch die vornehmsten aller Instrumente und Gattungen einer radikalen Neusichtung unterzogen: das Sinfonieorchester oder auch das Streichquartett. Beziehungsweise: Er tut es immer noch, denn Komponieren bedeutet, so Lachenmann, stets »ein Instrument bauen«. Das schließt ein, mit jedem Werk ein neues Instrument zu finden und zu erfinden und sich so jedes Mal selbst zu überschreiten.
An einem bestimmten Punkt seiner Karriere hat Helmut Lachenmann auch das Potenzial entdeckt, das in der Bezugnahme auf bestimmte Modelle oder Muster liegt, die unsere Wahrnehmung, bewusst oder unbewusst, prägen. Dieses Interesse war so weitgehend, dass er selbst treue Anhänger vor zwei Jahren vollends verstörte, als das Staatsorchester Stuttgart eine »marche fatale« uraufführte, die kaum mehr gebrochen mit historischem Material hantierte, sondern mit der Freude eines Kindes, das in die Requisite eines Opernhauses einbricht, mit gut erfundenen musikalischen Trivia spielte. Vielleicht aber auch nur ein längst überfälliger Schritt im Schaffen eines Künstlers, der in seiner dialektischen Vorwärtsbewegung nur eine Gangart kennt: Jedes neue Werk muss ein Stück weiter gehen in der Entfaltung und der Selbsterkenntnis des darin wirkenden Geistes. Und damit noch einmal zurück zum geistfähigen Material: Auch wenn Helmut Lachenmann beteuert, dass es ihm nie um neue Klänge, sondern stets um ein neues Hören gegangen sei, so hat er doch wie wenige andere das Material der Komponisten erweitert. Das nicht nur, indem er den Zauberwald der Geräusche in sein Schaffen integriert hat, sondern nicht zuletzt dadurch, dass er die körperlichen Energien, die bei der Hervorbringung des Klanges wirksam sind, zum Gegenstand seines Komponierens gemacht hat. Die Erfindung dieser »musique concrète instrumentale«, wie er dies nennt, fällt in den Zeitraum seines ersten Streichquartetts mit dem Titel Gran Torso. Von der Überschrift des zweiten, »Reigen seliger Geister«, darf man sich nicht irritieren lassen: auf einer oberflächlichen Ebene wird man wenig Verwandtschaft zu jenem berühmten und viel gespielten Ballett aus Christoph Willibald Glucks Tragédie-opéra über den Gründungsmythos der klassischen Musik, die Orpheus-Sage, erwarten. Wer um Helmut Lachenmanns spitzbübischen Humor weiß, wird vielleicht auf den Gedanken verfallen, dass dieses Stück seiner Vorstellung davon nahe kommt, wie Orpheus auf seiner Leier den seligen Geistern in eleusischen Gefilden vorspielt. Denn in der Tat verwandelt sich das Streichquartett im Laufe des Stücks in eine »Leier«, oder, wie man vielleicht noch präziser sagen könnte, in eine Super-Gitarre. Jedoch der Reihe nach: Wie Lufthauch wirkt der Beginn, die Streicher produzieren Flautato-Klänge, indem sie beinahe ohne jeden Druck ihre Instrumente bedienen. Der Klangeindruck erinnert vielleicht an huschende Schatten – oder an den Geist, der sich vor der Schöpfung über den Wassern bewegte. »Luft, aus den Tönen gegriffen«, nannte Lachenmann diese Spielweise. Sie ist das eine Extrem eines sich langsam entfaltenden Spektrums, das sich über japsende und erstickte Laute allmählich bis in eine »diametral entgegen gesetzte Klanglandschaft« verwandelt: eine »Landschaft von Pizzicato-Feldern«. Die Instrumente sind allesamt von Beginn an skordiert, das heißt: auf präzise Weise »verstimmt«. Diese Skordatur wird am Ende durch wilde, also: nicht genau vorherbestimmte Verstimmungen der Tonhöhe abgelöst. Vorhersehbar unvorhersehbar ist das klangliche Ergebnis: »Musik auf der Suche nach Nicht-Musik«, wie der Komponist umschreibt, ist der Eindruck, den er am Ende empfindet: »nicht Magie, die das Hören zu beherrschen sucht, sondern offener Raum, der es ›gefangen nimmt‹«. Es kann in der Tat magische Qualität entfalten, zu verfolgen, wie sich zu Beginn, einzelne Triller vom Tonlosen zum Ton entwickeln und später sich dieser Prozess auf das gesamte Quartett überträgt: Wie die Instrumente sich im Hoquetus-Verfahren zu einer sechzehnsaitigen Lyra verbinden und wie sie wieder auseinanderstreben. Das Erleben des Endes des Werks vergleicht Lachenmann mit der Erfahrung einer Gipfelerstürmung: »Es ist der Moment des durchatmenden Umsichblickens bei einer Bergbesteigung: ohne solche vorausgegangene Anstrengung in seiner Intensität nicht erklärbar. Die dynamische Zeit des ›Begehens‹ ist eine andere als die statische, zeitlose, der begangenen Landschaft selbst.« Hier hört das Hören sich selbst, der Geist schaut sich selbst im Spiegel an.