Programmhefttext zu Benjamin Brittens Les Illuminations
Text: Tobias Ruderer
Arthur Rimbaud war um die 20 als er die Prosagedichte seiner epochalen, 1876 von seinem zeitweiligen Geliebten Paul Verlaine herausgegebene Sammlung Les Illuminations schrieb – Benjamin Britten war 25, als er 1939 eine Auswahl daraus für Sopran und Streicher vertonte.
Britten lernte die Gedichte Rimbauds durch die Empfehlung seines Freundes, des Dichters W.H. Auden in den 1930er Jahren kennen. Sophie Wyss, die Uraufführungssolistin der Komposition, erzählte später, Britten habe eine Zeit lang von nichts Anderem als den Illuminations sprechen können, seine eigene Vertonung hielt er für sein bis dahin bestes Werk. Für Brittens Leben und Karriere bedeutete sie einen Aufbruch: Er, der wie Rimbaud aus der Provinz stammte, vollendete sie in New York, wohin er mit seinem späteren Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, gereist war.
Der Dichter der Textvorlage hielt sich in der Entstehungszeit der Illuminations mit seinem Kollegen und Geliebten Paul Verlaine in den europäischen Hauptstädten Paris, London und Brüssel auf. (Die rauschhafte, selbstzerstörerische Beziehung mit dem einige Jahre älteren Schriftsteller war Vorlage für ein Theaterstück und einen Spielfilm mit Leonardo di Caprio. Sie eskalierte bis zu dem Punkt, als Verlaine, in Gegenwart seiner Mutter, mit einer Pistole auf Rimbaud schoss und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.)
Rimbauds Lyrik wie Brittens Vertonung sind vom Geist des Urbanen erfüllt, der auf eine mystische und surreale Ebene transformiert wird: »Die Bacchantinnen aus der Vorstadt schluchzen, und der Mond brennt und heult. Venus tritt in die Höhlen der Schmiede und Einsiedler.« Mythologisches und Zeitgenössisches, Schmutz und Glanz begegnen sich in einer Sprache, deren letzte Bedeutung rätselhaft erscheint. Sie bleibt dem Dichter und seinem Komponisten vorbehalten: »J’ai seul la clef de cette parade sauvage« / »Ich alleine besitze den Schlüssel zu dieser wilden Parade« schreibt Rimbaud. Britten macht diesen Satz zum drei Mal wiederkehrenden Motto seiner Komposition.
Rimbaud spricht in den Illuminations selbst von einer »unbekannten« oder »rauen Musik«, die mit traditionellen Schönheitsvorstellungen brechen soll. Britten reagiert darauf mit einer ungewöhnlichen Verwendung der Streichinstrumente: In der einleitenden »Fanfare«, deren gebrochene Akkordfolgen in zwei weit voneinander entfernt liegenden Tonarten das gesamte Stück durchziehen, maskieren sie sich gewissermaßen als Blechblasinstrumente. Flageoletttöne erzeugen eine sphärische Stimmung, wenn Rimbaud für einen Tanz »Ketten zwischen den Sternen« aufzuspannen plant; Gitarrenklänge begleiten den lasziven Liebesgesang Antique, eine Ode an den anmutigen Sohn des Pan.
Britten schrieb das Werk ursprünglich für die erwähnte Sopranistin Sophie Wyss. Den Durchbruch zum Erfolg erlebten die Illuminations allerdings erst, nachdem sich das Verhältnis Brittens zu Peter Pears vertieft und dieser sie in sein Repertoire aufgenommen hatte. Deshalb hört man das Stück heute etwas öfter von Tenören gesungen. Dabei vermittelt die Originalversion, heute Abend mit Robin Johannsen, noch mehr das flirrende Vibrieren der urbanen Atmosphäre, die Britten mit Rimbaud verbunden haben mag.Während für Britten die Illuminations in das Anfangsstadium seiner Laufbahn fielen, beendete Rimbaud mit diesen Texten bereits seine Karriere als Schriftsteller. Sie hatte nur fünf Jahre gedauert, aber ein intensives, kompromisslos modernes Werk hervorgebracht, auf das sich Surrealisten, Symbolisten und Expressionisten immer wieder beziehen sollten. »Assez vu […] Assez eu […] Assez connu«, heißt es in Rimbauds Gedicht Départ, das am Ende von Brittens Zyklus steht: »Genug gesehen. Genug gehabt. Genug erkannt«. Der »Aufbruch zu neuer Erregung, neuem Lärm« –so der letzte Vers des Vierzeilers – führt Rimbaud aus der Literatur heraus. Nachdem er sich selbst in den Dichter-Ruhestand versetzt hatte, verbrachte er 16 Jahre als die Welt durchquerender Abenteurer und Geschäftsmann, ehe er 1891 in Marseille starb.