Einleitender Text zum Programm »vanitears« von Tobias Ruderer
Text: Tobias Ruderer
Wenn die barocke Kunst noch Totenköpfe, verwelkende Blumen und umgestürzte Gläser brauchte, um Vergänglichkeit darzustellen, dann gibt es dafür im Medienzeitalter ein neues Format: Einige Menschen haben von Kindheit oder Jugend an in regelmäßigen Abständen und vor gleichbleibendem Hintergrund Fotografien von sich anfertigen lassen. Am Ende des Lebens ergeben sie ein kurzes digitales Daumenkino des Vergehens. Der Effekt beim Zusehen ist: tiefes Mitgefühl, angesichts der Hilflosigkeit des Körperlichen im Zeitlichen.
Doch wenn wir alle zusammen mit der Zeit vergehen, welche Instanz in uns ist es, die darüber zu Tränen gerührt wird? Liegt diese dann nicht außerhalb der Zeit? Gibt es überhaupt etwas außerhalb der Zeit?Wenn etwas die Linearität der Zeit herausfordern, perforieren und schließlich aufreißen kann, dann unsere eigene Wahrnehmung. Schärfen wir sie mit der Zeitkunst selbst. Benjamin Britten holt heute Abend zwei Mal aus: Erst zu einer Rückwärtsreise, vom kontemplativen Ernst zu den düsteren Tränen, von der Variation zum Ausgangspunkt. In seinem zweiten heute gespielten Werk lässt er surreal-urbane Parallelrealitäten eines 20-jährigen Dichters im ausgehenden 19. Jahrhundert erblühen. Dazwischen fährt Thomas Larcher unser Zeitempfinden langsam herunter auf einen Nullpunkt. Weiter hinten auf dem Strahl der Geschichte winken Henry Purcell und John Dowland, und wenn wir sie richtig verstehen, deuten sie an, dass die Bewegungen des Herzens präziser sind als die der Uhr.