Thilo Braun über Vergänglichkeit und Erinnerung
Weil wir um die Vergänglichkeit wissen, wollen wir erinnern. Das zeigt sich besonders bei Menschen, die dem Tod nahestehen. »Meine geliebten Erinnerungen, wo wollt ihr denn ohne mich hin?«, fragt ein alter Mann kurz vor dem Sterben in einem Lied des Songwriters Gisbert zu Knyphausen. Der Impuls, den Verlust zu bekämpfen, liegt nahe: In Fotos, Worten, Geschichten werden gespeicherte Information ans Tageslicht befördert – und doch bringt die Erinnerung nicht das Erinnerte zurück.
Und vielleicht ist das auch ganz gut so. Denn es ist schon schlimm genug, dass wir schmerzhafte Erinnerungen, etwa den Verlust geliebter Menschen oder peinliche Demütigungen, wieder und wieder durchleben. Königin Dido wünscht sich in Purcells Dido and Aeneas kurz vor ihrem Tod: »Remember me, but ah! Forget my fate«: Denkt an mich, aber vergesst mein grausames Schicksal. Natürlich geht das nicht.
Das weiß niemand so gut wie Dido selbst, die ja gerade von ihrer Unfähigkeit, traumatische Erinnerungen zu vergessen, in den Selbstmord getrieben wird. Das menschliche Gehirn ist eben keine Speicherkarte, auf der sich Daten nach Belieben archivieren, abrufen oder löschen lassen. Erinnerung ist persönlich, unmittelbar verflochten mit dem »Ich« und unserer individuellen Art, das Leben zu begreifen. Aristoteles stellt dem Begriff »Erinnerung« deshalb »das Gedächtnis« gegenüber, als reine Speicherleistung: »Erinnerung unterscheidet sich vom Gedächtnis nicht nur bezüglich der Zeit, sondern auch darin, dass sich Gedächtnis auch bei vielen anderen Lebewesen findet, Erinnerung aber, so kann man sagen, sich bei keinem anderen, außer beim Menschen.« Auch ein Hund hat also ein Gedächtnis und wäre nicht überlebensfähig ohne die Fähigkeit, aus der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Der Mensch allein jedoch reflektiert und bewertet diese Gedächtnisleistung aktiv, um an der Erinnerung zu reifen, sie mit anderen zu teilen und mittels Sprache, Schrift und anderer Werkzeuge vor dem Vergessen zu bewahren – sogar über das eigene Leben hinaus.
Denn ohne Blick zurück gäbe es auch keinen nach vorne, ohne Analyse von Ursache und Wirkung keine Prognose für die Zukunft. So gesehen birgt die Erinnerung ein unendliches Potenzial zur Bewältigung der Gegenwart, solange wir nicht den Fehler begehen, uns in ihr zu verlieren. Die Musik des heutigen Konzerts zeigt auf künstlerische Weise, welch ein Reichtum aus dem Spiel mit der Vergangenheit erwachsen kann: Antike Mythologie bietet die Inspirationsquelle für Purcell, einen barocken Komponisten. Er komponiert daraufhin eine Musik, die Jahrhunderte später zum Kulturgut des Konzertwesens geworden ist. E-Gitarrist Kalle Kalima ruft uns diese Klänge in Erinnerung und verknüpft sie wiederum assoziativ mit dem Sound der Moderne. An diesen Abend werden Sie sich erinnern.