Riccardo Minasi auf musikhistorischer Spurensuche
von Thilo Braun
September 2020. Noch zehn Tage bis zur Aufnahme dieser CD: Riccardo Minasi sitzt zu Hause und wagt einen letzten Versuch. Wieder einmal recherchiert er im Netz nach Informationen über ein Salve Regina a due voci. Er kennt und liebt das Werk seit einem Vierteljahrhundert – und doch war ihm die genaue Herkunft dieser Musik immer ein Rätsel geblieben. Die älteste Ausgabe, die Riccardo Minasi gefunden hatte, stammte aus dem Jahr 1773. Ein englischer Musikverleger namens Robert Bremner hatte sie gedruckt und als vermeintliche Komposition Giovanni Battista Pergolesis verkauft.
Riccardo Minasi blieb misstrauisch. Denn das Problem ‚echter‘ und ‚falscher‘ Werke Pergolesis beschäftigt die Musikwissenschaft seit Jahrhunderten. Von den rund einhundertfünfzig Werken, die unter seinem Namen kursieren, hat er wohl nur gut dreißig komponiert. Der überwiegende Teil wurde ihm posthum angedichtet, da sich Musikverleger wie Robert Bremner dadurch ein besseres Geschäft versprachen.
Auf der Suche nach dem Ursprung durchforstete Minasi unzählige Abschriften: eine in Florenz, eine in Venedig, zwei in Neapel, eine in Berlin, San Francisco, Genua. Immer stand »Pergolesi« über den Noten – und doch war keine Kopie zu Lebzeiten des Komponisten entstanden. Die Charakteristik der Musik war eindeutig neapolitanisch geprägt, sie entsprach stilistisch definitiv der Musiksprache Pergolesis, hätte aber ebenso von Francesco Durante, Domenico Sarro oder anderen dieser Schule sein können. Ohne ein autografes Manuskript, einen Beleg durch Wegbegleiter, Auftraggeber oder zeitgenössische Archive, war die Herkunft nicht zu klären. »Es war so frustrierend!«
Dann, an jenem Tag kurz vor der Aufnahme, macht Riccardo Minasi eine unerwartete Entdeckung: »Ich fiel fast vom Stuhl!«, erinnert er sich. Zufällig klickt er auf das Audio eines Salve a Duo, eingespielt vom »Orquesta de Cambra Catalana« im Jahr 2007. Ungeahnt vertraute Klänge tönen aus den Computerboxen: Es ist das Salve Regina in f-Moll, nach dem er forschte. Nur stand da ein ihm völlig unbekannter Name: »Joan Rossell. Wer war das?«
Wohl niemand könnte diese Frage besser beantworten als die katalanische Komponistin und Musikwissenschaftlerin Anna Cazurra. Sie forscht seit Jahrzehnten akribisch zum ebenfalls katalanischen Komponisten Joan Rossell, hat ihre Doktorarbeit und unzählige Texte über ihn verfasst, unter anderem für das enzyklopädische Musiklexikon The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Auch die Noten, aus denen das »Orquesta de Cambra Catalana« für die alte Aufnahme spielte, hatte sie transkribiert. Riccardo Minasi setzte alle Hebel in Bewegung, bombardierte Cazurra mit Nachrichten auf allen Kanälen – doch sie war im Urlaub, antwortete erst drei Tage vor Aufnahmebeginn. Und doch rechtzeitig, um weitere verblüffende Erkenntnisse ans Licht zu bringen: Beim Abgleich zwischen dem originalen Autograph von Joan Rossell und der ältesten Abschrift stellte Minasi fest, dass Robert Bremner 1773 das Werk Rossells nicht nur unter falschem Namen veröffentlichte (wovon Anna Cazurra wiederum nichts wusste), sondern dass er auch in die Komposition eingegriffen hatte. So konnte Riccardo Minasi das Werk für diese CD nun erstmals unter richtigem Namen und unter Einbeziehung von Rossels Autograph einspielen.
Im Jahre 1748 hatte Joan Rossell seinen Dienst als Kapellmeister in der Königsfestung von Palma, dem arabisch anmutenden Palacio de la Almudaina auf Mallorca angetreten. Er stammte ursprünglich aus Barcelona, wurde dort 1724 in eine Musikerfamilie hineingeboren. Großvater Rossell hatte schon in der Kapelle der Kathedrale gespielt, der Vater war Sänger, die Brüder spielten als Geiger in den besten Orchestern des Landes. In seiner Jugendzeit komponierte Rossell im Stil des spanischen Barocks, in Mallorca jedoch eignete er sich mehr und mehr den modernen, galanten Stil an. Das Stabat Mater Pergolesis könnte dabei eine Rolle gespielt haben.
Sein Salve Regina komponiert er sogar schon 1743, also noch vor seiner Zeit auf Mallorca. Jedoch muss er neapolitanische Werke, möglicherweise sogar eine weitere Abschrift des Stabat Mater, als Inspiration genutzt haben, denn die Mischung aus Empfindsamkeit und Galanterie ist dem Stabat Mater Pergolesis verblüffend nahe. Exzessive Seufzerfiguren und Dissonanzen prägen den schmerzerfüllten Beginn, im darauffolgenden Mater Misericordiae dagegen trägt die Musik Engelsflügel, sie scheint durch den raffinierten Rhythmus und verschobene Schwerpunkte von aller Last befreit. Es ist eine Musik, die stetig schwankt zwischen heiligem Strahlen, angstvoller Trübsal und todschwarzer Nacht, manchmal innerhalb weniger Takte. Da brennen Wunden in kleinen Sekunden, da fleht ein Sünder in übermäßigen Sexten, da wird gelitten in verminderten Quinten; das harmonische Gerüst steht unter Hochspannung. Solche (für Pergolesi typischen!) dramaturgischen Effekte hat Musikverleger Robert Bremner 1773 durch kleinste Ergänzungen in der Partitur verstärkt und durch weitere Verzierungen ergänzt, um seine Fälschung noch mehr nach Pergolesi klingen zu lassen. Dies gelang ihm so stimmig und effektvoll, dass Riccardo Minasi sich letztlich entschlossen hat, Bremners »falsche« Version als Grundlage für diese Aufnahme zu verwenden.